Seit 92 Jahren: Die Berliner S-Bahn
Ein Hamburger Freund der Westberliner S-Bahn sagt aus


eine Geschichte zurück Inhaltsverzeichnis eine Geschichte weiter


„Wieso bist Du eigentlich ein Fan der Berliner S-Bahn?“ wurde ich früher manchmal von Hamburger Freunden mit leicht vorwurfsvollem Timbre gefragt, als ob es in Hamburg nicht auch eine S-Bahn gäbe, die eine seitliche Stromschiene hatte mit sogar 1200V Gleichspannung. Ich mochte dann ungern pampig werden und von „Hühner-S-Bahn“ sprechen, deshalb erzählte ich von der Geschichte der großen S-Bahnschwester aus Berlin (mit nur 750V Gleichspannung), vom wesentlich größeren Netz mit ganz unterschiedlichen Bahnhöfen und Beschilderungen, der klugen Gestaltung des Gesamten als Ringbahn, Stadtbahn und Nordsüd-S-Bahn und den Strecken weit ins Berliner Umland. Berlin ist an seiner Bahn entlang gewachsen, sie war zuerst da, sie gab der Stadt ein eisernes Gerippe. Sogar zu DDR Zeiten wurden die riesigen neuen Vororte Ostberlins noch so gebaut, erst die Bahn, dann die Platte. (Hamburg wurde damals von zwei S-Bahnlinien durchbohrt und das wars dann schon, und seit 1975 gab es noch eine halbe Linie Richtung Süden dazu. Und die großen Siedlungen in HH bauten kluge Politiker und selbstbewusste Stadtplaner in die Einöde, die Kommunikation wurde mit keuchenden Bussen versucht, aber nur bis 22 Uhr! Immerhin hat aber die Hochbahn viele Jahrzehnte später vorsichtig eine Strecke nach Mümmelmannsberg erschaffen.)

Also, wie wird ein Mann, der seit vielen Jahren in Hamburg wohnt und arbeitet, zum Verehrer eines Beförderungsmittels, das jahrzehntelang scheinbar ungepflegt und vereinsamt durch Westberlin mit seinen geradverzahnten Getrieben röhrte, nörgelte und rumpelte, zischte und fiepte und von seinen potentiellen Kunden mit Missachtung gestraft wurde? Und das, obwohl die Berliner früher stolz auf das modernste Nahverkehrsmittel der Welt waren. Wo war nun das gewisse Etwas, das die Zuneigung zu den über fünfzigjährigen, meistens genieteten, eckigen Kisten wachsen ließ und zu den Bahnhöfen, die nur unvollkommen vom Unkraut überwuchert waren und deren gußeiserne Säulen, Stützen und Streben statt anthrazitglänzendem Schwarz den Anflug von Rost als Symbol der Vergänglichkeit mit Würde trugen?

Schönholz 1977

Schönholz 2016

Der Kontrast fiel auf zu unseren glitzernden, leise brummend oder winselnd dahingleitenden Westverkehrsmitteln, in denen man sich auf Polstern räkeln konnte und nicht wie damals in Westberlin Angst haben musste, in der „dritten Klasse“ von einem Holzwurm angefallen oder wegen des Geschaukels Opfer der Seekrankheit zu werden. „Ulbrichts Schüttelexpress“ transportierte damals statt Menschen hauptsächlich viel Geschichte. In den Zwanzigern, als die Demokratie versuchte, im Deutschen Reich auf die Beine zu kommen, entstand die elektrische S-Bahn und spielte auch gleich kleine Rollen im Hintergrund heute sehr berühmter Filme, „Menschen am Sonntag“, „Kuhle Wampe“ und „Berlin Alexanderplatz“ fallen mir da ein. Da war sie auch gleich immer knüllevoll mit „Reisenden“ und mit mit Berliner Schnauze geführten Diskussionen. Und auch meine Mutter fuhr als ganz junge Frau mit ihrer Berliner Brieffreundin Gerti im schnellen Takt zu den Olympischen Spielen 1936 auf den zehngleisigen Bahnhof. Ich selbst bin 1980 im 20-Minutentakt eingleisig und einsam nach Frohnau zum Wasserturm am Bahnhof gefahren, darin befand sich nämlich mein Hotelzimmer.

Ein Vierteljahr später hatte die DDR keine Lust mehr, den streikenden S-Bahnern auf die Finger zu hauen und Geld für ein Beförderungsmittel auszugeben, das sowieso kaum einer wollte außer diesem Bekloppten aus Hamburg. Sie stellte also die kleinen Strecken nach Gartenfeld oder Düppel und die großen, wie die Ringbahn im Westen oder die schnieke Wannseebahn ganz ein, man durfte dann nur noch im Keller von Ostberlin herumrumpeln oder nach Wannsee via Stadtbahn neben der Avus erfahren, was Schienenstöße in schneller Abfolge für schöne Rhythmen machen können. Für einen Musiker war die S-Bahn eine akustische Offenbarung, das kann man mir glauben, besonders, wenn man das Fenster ganz – bis auf Bauchhöhe – herabließ und der Wind mit 80 Kilometern pro Stunde auf der Grunewaldstrecke einem durch Haare und Ohren blies und die Abreißfunken zwischen den Stromschienen und Schleifern krachend irgendwohin stoben.

Das gibt es alles nicht mehr, die Berliner S-Bahn ist neu, die Fenster sind fast gänzlich dicht, Gerumpel und Genörgel sind nur noch auf meinen Tonbändern zu hören, der Holzwurm musste sich ein anderes Betätigungsfeld suchen, dem Unkraut auf den Bahnsteigen wird Paroli geboten, und die Bahn, wenn sie denn trotz DB AG fährt, pfeift hoch und ist schnell.
Wieso war ich denn nun einmal ein Fan der Westberliner S-Bahn?


eine Geschichte zurück Inhaltsverzeichnis eine Geschichte weiter

Autor:
Lutz Jordan
Freier Autor der Zeitschrift BAHNEpoche
Dieser Text inklusive des Filmes war zum 92. S-Bahnjubiläum unsere entsprechende Würdigung.

letzte Änderung:
14. August 2016

Veröffentlichung:
8. August 2016

nach oben