Die Kremmener Bahn

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Mauerbau, Stillegung und Niedergang

Politisch driftete Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg in das Spannungsfeld zwischen den Besatzungsmächten. Hier verschärfte sich mit der Zeit der Umgangston zwischen den West-Alliierten mit der sowjetischen Militäradministration im nunmehrigen Ostberlin. Diese Spannungen führten anfangs zu der knapp ein Jahr andauernden Berliner Blockade. Erste Einschränkungen gab es auf der Kremmener Bahn im Jahre 1949 während des Ersten Reichsbahnerstreikes. Ein weiteres Indiz für die sich immer weiter verschärfende politische Situation ist das Verkehren der sogenannten Durchläuferzüge vom 18. Mai 1953 bis 3. Mai 1958.

Doch die Gegensätze bauten sich weiter auf. Das Ganze gipfelte schließlich im August 1961 mit dem Bau der Berliner Mauer. Die Kremmener Bahn war auch betroffen, die DDR unterbrach die Streckenführung zwischen den S-Bahnhöfen Stolpe Süd und Heiligensee. Letzterer wurde nun ein neuer Endpunkt im Westberliner Teilnetz. Am 17. August rief der Deutsche Gewerkschaftsbund zum S-Bahnboykott auf, Hunderttausende Westberliner schlossen sich dem an. Die Züge und Stationen verloren in den nachfolgenden Wochen und Monaten fast 80 Prozent ihrer Fahrgäste, wer noch mit der S-Bahn fuhr, wurde bepöbelt, angespuckt und manchmal auch tätlich angegriffen. Da half es auch nicht, daß die Reichsbahn zum 15. Oktober 1961 auf der Kremmener Bahn wieder zum 20-Minutentakt zurückkehrte. Die Züge blieben leer und damit auch die Kassen der unter Ostberliner Regie fahrenden S-Bahn.

Die Stellwerke nördlich von Tegel (Blockstelle Schulzendorf sowie die Stellwerke "Hls" und "Hnt" des Bahnhofes Heiligensee) wurden kurz nach dem Mauerbau außer Betrieb genommen.

Wegen der betriebsfähigen Triebwagenhalle in Velten sowie des Bahnstromunterwerkes in Hennigsdorf entschloß sich die Reichsbahn, auf den sechs Kilometern zwischen Hennigsdorf und Velten weiterhin einen S-Bahnverkehr anzubieten. Wer nun von der nördlichen Kremmener Bahn nach Berlin wollte, mußte erst nach Hennigsdorf Nord fahren, um von dort mit den Zügen des Sputnikverkehres unter großen Zeitverlusten die Hauptstadt der DDR zu erreichen. Anfang 1962 wurde die erst 1946 von französischen Pionieren wiederhergestellte Brücke über den Oder-Havel-Kanal erneut abgetragen.

In den nachfolgenden Jahren legte sich eine fast gespenstige Ruhe über die Westberliner Bahnhöfe der Kremmener Bahn. Neben denen im 20-Minutentakt verkehrenden S-Bahnzügen fuhren noch Güterzüge zu den Güterbahnhöfen Reinickendorf und Tegel sowie die Militärzüge der französischen Besatzungsmacht zum Gare francaise in Tegel. An der Strecke fanden weiterhin Bauarbeiten statt, die nicht nur für deren Instandhaltung nötig waren, sondern auch um stadtplanerische Absichten umzusetzen, so z.B. am S-Bahnhof Eichbornstraße. Dessen südlich gelegenes Bahnsteiggleis 1, welches 1945 als Reparationsleistung gen Osten verschwand, wurde um 1974 wieder aufgebaut. Grund hierfür war die Brückenerneuerung über den Eichborndamm bzw. der Brückenneubau über die Verlängerung der Antonienstraße. Die Ostberliner Reichsbahn bedang sich damals die konstruktive Berücksichtigung für das ehemalige zweite und für das schon in den Germania-Planungen vorgesehene dritte Gleis aus - und der Westberliner Senat folgte diesem Wunsch. Bis 1975 waren diese Bauarbeiten beendet, die S-Bahn kehrte nun wieder auf ihr ursprüngliches Bahnsteiggleis 2 zurück. Schwellen-, Gleis- und Stromschienenreste des alten Gleises 1 kann man auch heute noch erkennen. Wer genau hinsieht, wird auch die vorbereiteten Brückenwiderlager für das schon in den Germania-Planungen vorgesehene dritte Streckengleis entdecken. Bei den in Richtung Tegel vorhandenen Bahnbrücken über die Innungsstraße und die Holzhauser Straße wurden die Gleiströge für das zweite Gleis Ende der 1970er Jahre ebenfalls eingebaut sowie das dritte Gleis konstruktiv vorgesehen.

Eine Veränderung im internen S-Bahnfahrplan führte ab dem 28. Mai 1972 dazu, daß die Züge der Zuggruppe 3 nun mit den Zügen der Zuggruppe 2 gekoppelt gefahren wurden, d.h. in Heiligensee wurde von der Zuggruppe 2 (Schönholz—Lichterfelde Süd—Heiligensee) auf 3 (Heiligensee—Lichtenrade—Schönholz) und in Schönholz von der Zuggruppe 3 auf 2 umgeschildert. In der dritten Septemberwoche des Jahres 1980 brach der Zweite Reichsbahnerstreik aus. Mit Betriebsbeginn am 18. September rollte für die nächsten zehn Tage kein Zug mehr auf der Kremmener Bahn. Erst drei Tage nach Streikende, also ab dem 28. September, fuhren die rotgelben Züge wieder durch den Bezirk Reinickendorf. Das ohnehin schon schlechte Ansehen der S-Bahn litt weiter, die Züge der nun neuen Zuggruppe Nathan (NII) transportierten viel warme Luft hin und her. Die Wiederaufnahme des S-Bahnverkehrs ist wahrscheinlich mehr dem Taktieren der Ostberliner Reichsbahn zu einer möglichen Übernahme der S-Bahn durch den Westberliner Senat geschuldet als der zum damaligen Zeitpunkt wirklich bestehenden Verkehrsbedeutung.

Der Rückzug der S-Bahn von der Kremmener Bahn

Auch auf dem im nunmehrigen Bezirk Potsdam verbliebenen S-Bahn-Inselbetrieb zwischen Velten und Hennigsdorf ergaben sich nach 22 Jahren Änderungen in der Betriebsführung. Denn Anfang der 1980er Jahre erreichte die Streckenelektrifizierung der Deutschen Reichsbahn auch den Berliner Raum. Aufgrund der hohen Kosten, die bei einem Parallelbetrieb von Gleich- und Wechselstrom unweigerlich entstehen würden, entschloß sich die DR, diesen Inselbetrieb einzustellen. Am 21. September 1983 um 1.25 Uhr verließ der letzte S-Bahnzug den Bahnhof Hennigsdorf. Mit Betriebsbeginn desselben Tages übernahmen lokbespannte Personenzüge die Beförderung der Reisenden.

Das vorläufige Aus für den Westberliner Abschnitt der Strecke kam wenige Monate später am 9. Januar 1984 mit der Übertragung der Betriebsrechte an die Westberliner BVG. Diese konnte aus Personalmangel den S-Bahnverkehr auf der Kremmener Bahn nicht weiter aufrechterhalten. Und so verließ am 8. Januar die letzte S-Bahn die Station Heiligensee mit einigen Minuten Verspätung in Richtung Schönholz:

Zur letzten Fahrt eines Heiligenseer S-Bahn-Zuges hatte sich eine größere Gruppe von Eisenbahnfreunden bereits in Lichterfelde Süd eingefunden. In Schönholz ging der Zug (Umlauf NII/5) bereits mit Verspätung auf die eingleisige Kremmener Bahn über. Die Verspätungen in der Zuggruppe NII waren im Laufe des Tages entstanden, weil die Haltezeiten auf den Bahnhöfen der Kremmener Bahn für den unerwarteten Andrang bei weitem nicht ausreichten. Nach der Ankunft des Halbzuges in Heiligensee gab es noch ein kurzes Aufblitzen aus vielen Fotoapparaten und um 21.00 Uhr - mit 13 Minuten Verspätung - setzte sich der für wohl sehr lange Zeit letzte elektrische S-Bahn-Zug auf der Kremmener Bahn in Berlin (West) wieder in Bewegung. Der Triebwagen an der Zugspitze (275 339) war mit Tannenreisig und einer schwarzen Schleife geschmückt und trug ein Schild mit der Aufschrift "Letzte S-Bahn aus Heiligensee Zuggruppe Nathan 8.1.1984" (...)

Der Zug verkehrte wie der letzte Zug aus Frohnau bis Anhalter Bahnhof; bei der Durchfahrt dieses letzten Zuges der S-Bahn durch den Gesundbrunnen ertönte noch einmal ein Pfeifkonzert, das überhaupt nicht dem Signalbuch entsprach. Dieser Zug war zugleich auf dem Streckenabschnitt Schönholz—Anhalter Bahnhof der letzte Zug mit Fahrgastbeförderung [12].

Für die nächsten neuneinhalb Jahre verkehrten somit keine planmäßigen S-Bahnzüge mehr im Fahrgastbetrieb. Doch die Gleise blieben blank, denn nicht nur der Güterverkehr zwischen Schönholz und Tegel sowie die regelmäßigen Militärzüge der französischen Alliierten rieben beginnenden Rost von den Schienen, sondern auch die ab Februar 1984 beginnende Grundsanierung der BR 275 bei der Waggon Union in der Miraustraße. Das Unternehmen führte ihre Abnahmefahrten auf dem S-Bahngleis zwischen dem Abzweig Tga und dem Bahnhof Tegel durch. Ab dem Jahre 1986 erprobte sie hier auch die neuen Züge der Baureihe 480. Schon während der Sanierung der BR 275 gab es Überlegungen, vom Güterbahnhof Reinickendorf aus das Anschlußgleis zur Waggon Union mit einer Stromschiene auszurüsten und sich somit die von der Reichsbahn durchgeführten Überführungsfahrten einzusparen. Das Zuführungsgleis zur WU wurde später tatsächlich mit einer Stromschiene ausgestattet, die Überführungsfahrten führte die Reichsbahn jedoch weiterhin durch. Dafür wurde mit der Wiederinbetriebnahme der Nordbahn am 1. Oktober 1984 zumindest das vom Bahnhof Schönholz ausgehende S-Bahn-Streckengleis ungefähr bis zur Unterführung des Streckengleises Frohnau—Schönholz sporadisch als Kehrgleis genutzt. Im Frühjahr und Sommer 1984 sammelte die "S-Bahn-Initiative Kremmener Bahn" über 10 000 Unterschriften zur schnellen Wiederinbetriebnahme - leider jedoch vergeblich [28].

Zwischenzeitlich hatte auf dem Nordteil der Kremmener Bahn die ehemalige S-Bahnstrecke in den Monaten April und Mai 1984 ihre Stromschiene verloren [13], jedoch nicht für lange Zeit. Denn mit der im Jahre 1987 anlaufenden Serienproduktion der BR 270 hätte das LEW Hennigsdorf die alte S-Bahnstrecke für die ersten Probefahrten der neuen Züge gut gebrauchen können. Also entschloß man sich, Anfang 1987 das Streckengleis Hennigsdorf—Velten bis zur Triebwagenhalle erneut mit einer Stromschiene auszurüsten und das Unterwerk Hennigsdorf wieder in Betrieb zu nehmen. Im Bereich der Triebwagenhalle Velten wurde ein Außengleis wieder mit einer Stromschiene versehen, im ehemaligen Triebwagenschuppen erhielt ein Hallengleis wieder eine Deckenstromschiene.
Da der technische Aufwand zum Betreiben der beiden benötigten Stromsysteme jedoch sehr groß war, entschloß man sich ein Jahr später für den Bau eines separaten Testgleises, dieses Gleis wurde ebenfalls mit einer Stromschiene und einer Oberleitung ausgestattet, es reichte aber nicht mehr bis zur Triebwagenhalle heran.
Im August 1987 rüstete die DR den Streckenabschnitt Hennigsdorf—Velten mit dem punktförmigen Zugbeeinflussungssystem PZB aus [23].

Auch auf dem sich in Westberlin befindlichen Teil der Strecke ergaben sich bauliche Änderungen. Gemäß einer Vereinbarung vom August 1985 zwischen dem Land Berlin und der VdeR wurde nach vorheriger Entwidmung im Frühjahr 1986 ein ca. 1,4 Kilometer langer Abschnitt (km 11,650 bis km 13,070) der Kremmener Bahn abgebaggert und der Bebauung für die neue Straßenführung der Bundesautobahn A 111 zugeordnet. Der Autobahnzubringer nutzt ehemaliges Bahngelände vom neuen Waidmannsluster Damm bis zur Ruppiner Chaussee. Auf dieser ehemaligen Gleistrasse verkehren nun seit Dezember 1987 Autos und Lastkraftwagen zwischen den Anschlußstellen Waidmannsluster Damm/Hermsdorfer Damm und Holzhauser Straße. Der weiter nördlich gelegene Streckenabschnitt bis Heiligensee hatte somit keinerlei Verbindungen mehr zum übrigen Eisenbahnnetz und wurde dem Verfall preisgegeben. Eine Wiederinbetriebnahme rückte somit vorerst in weite Ferne.

Nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 änderten sich in den nachfolgenden Jahren die Verkehrsströme rapide. Statt mit den Zügen des Sputnikverkehres bzw. mit dem Auto um Berlin drum herum zu fahren ging es nun wieder mittendurch. Die Anfang der 1990er Jahre einsetzende schnelle Motorisierung des Individualverkehres ließ die einstigen hohen Fahrgastzahlen auf dem in der früheren DDR und späteren Brandenburger Gebiet liegenden Teilabschnitt der Kremmener Bahn schnell sinken. Statt viel warme Luft zu transportieren entschloß sich die Deutsche Bahn AG (DB AG) als Rechtsnachfolger der Reichs- und Bundesbahn im Jahre 1995, den erst 1983 eingeführten elektrischen Betrieb auf dieselbetriebene Triebwagen umzustellen.

Apropos Diesel: In diesem Zusammenhang kam auch die S-Bahn - wenn auch vorerst nur für einen kurzen Zeitraum - wieder nach Hennigsdorf. In der Euphorie der Nachwendezeit sahen die Berliner und Brandenburger Stadtplaner einen immensen Bevölkerungszuwachs voraus. Um die prognostizierten Fahrgastmassen auch abtransportieren und diese Verkehrsströme in das bestehende S-Bahnnetz integrieren zu können, erdachte und baute die damalige AEG Hennigsdorf in Eigenregie einen Halbzug der BR 485 in die sogenannte Duo S-Bahn um. Dieser besondere Zug konnte ganz normal auf den elektrischen S-Bahnstrecken verkehren, dort, wo keine Stromschiene lag, sorgte ein Dieselmotor für die benötigte Traktionsenergie. Und so verkehrte vom 29. Mai 1994 bis zum 28. Mai 1995 bis zu achtmal am Tag dieser umgebaute Probezug zwischen Hennigsdorf und Oranienburg. Da die Nachteile überwogen und die mittlerweile neu gegründete S-Bahn Berlin GmbH sich für eine neue Gesamtberliner Baureihe (BR 481) entschied, wurde das Projekt ad acta gelegt.

Bild: Museumszug

Sonderzug des Vereins Historische S-Bahn am 3. Oktober 1993 im Bahnhof Tegel.

Über neun Jahre nach der Betriebseinstellung pendelte am 4. September 1993 im Rahmen der 10. Schienenverkehrswochen ein Halbzug der BR 476 (476 317 und 330) stündlich zwischen den Stationen Tegel und Wittenau (Kremmener Bahn) mehrfach hin und her. Der Veranstalter, der Berliner Fahrgastverband IGEB, wollte damit zeigen, daß schon zum damaligen Zeitpunkt ein Verkehr auf der Gleistrasse möglich war. Nur einen Monat später, am 3. Oktober verkehrte der Verein "Historische S-Bahn e.V." mit ET/ES 165 231 und ET/EB 165 471 tagsüber im 40-Minutentakt wiederum zwischen Tegel und Wittenau (Kremmener Bahn). Auch wenige Kilometer weiter nördlich bewegten sich nun wieder die rotgelben Züge, denn Ende September 1993 begannen die Probefahrten der für die Reichsbahn bestimmten zweiten Bauserie der BR 480 (480 046/546 bis 085/585) auf dem Testgleis der damaligen Hennigsdorfer AEG Schienenfahrzeuge GmbH (ASF) zwischen Hennigsdorf und Hohenschöpping [14].


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