Das Elektronische Zugsicherungssystem EZS 800


Nachdem die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) am 9. Januar 1984 die Betriebsrechte der S-Bahn in Westberlin übernahmen, wurden Untersuchungen angestellt, mit welchem Zugsicherungssystem man neue Strecken ausrüsten wollte. Das vorhandene Signalsystem (Signalverbindung-System, kurz Sv) war zum Teil schon über 50 Jahre alt, eine Ersatzteilbeschaffung wurde immer schwieriger. In Verbindung mit einem neuen Signalsystem war auch an die Ablösung der mechanischen Fahrsperre sowie eine Zentralisierung der Stellwerke angedacht.

Die Firma SIEMENS hatte eine zentrale Steuerung der Stellwerke mit Übertragung der Signalbegriffe vom Stellwerk zum Zug mittels EZS 800 angeboten. Die BVG nahm das Angebot an. Die wichtigsten Merkmale auf einen Blick:

Als Anzeigeinstrument für die Streckeninformationen im Führerstand stand dem Triebfahrzeugführer (Tf) ein neuer Tachometer zur Verfügung. Dieser ist noch heute in den Viertelzügen der BR 480 vorhanden.

Bild: Tachometer BR 480

Tachometer der BR 480 mit diversen - bis heute bei der S-Bahn nie genutzten - Anzeigeelementen. Einige Elemente werden heutzutage auch in den Multi-Funktions-Anzeigedisplays (MFA) von Lokomotiven u.ä. in abgewandelter Form verwendet. Die hier im Bild sichtbare Ausleuchtung diverser Anzeigen beruht auf einer Fehlfunktion (28. März 2004).

Auch die Fahrzeuge der damaligen BR 275 waren für einen Einbau der EZS 800 vorgesehen. Im Traglastenabteil waren unter den Längsbänken einiger Fahrzeuge bereits Geräteschränke für die spätere Steuerungstechnik eingebaut. Am Drehgestell wurde eine Halterung montiert, an dem das Empfangsgerät zur Zugbeeinflussung und Signalaufnahme angebaut worden wäre. Ende 1986 sollten auf dem Prüfgleis des S-Bw-Wannsee mit dem Viertelzug 275 641/642 erste Meßfahrten stattfinden [1].

Im Jahre 1989 wurde begonne, das neue Signal- und Zugsicherungssystem aufzubauen. Als Versuchsstrecke wollte man die S1 (damals Wannsee - Anhalter Bahnhof) ausbauen. Bei der in den Jahren 1984/85 erfolgten Sanierung der Strecke wurden deshalb nur wenige Signale des von der Deutschen Bundesbahn übernommenen H/V-Signalsystems eingebaut. Dieses sollte sich später als betriebliches Manko herausstellen, da bei zusätzlichen Leerzügen aufgrund der zu großen Blockabstände der Signale der Regelbetrieb immer gestört wurde.

Fertig gestellt wurden die Rechnerräume für die stationäre Technik: über dem alten Stellwerk Anhalter Bahnhof befand sich ein Raum, der aufgeständert (Kabelboden) und mit einer Klimaanlage versehen wurde. Ebenso wurde in Zehlendorf ein Rechnergebäude gebaut, daß sich neben der Bahnmeisterei am südlichen Bahnsteigende neben dem Gleis 1 (Anhaltiner Straße) befand (gelber Klinkerneubau). Hier wurde 1989 schon ein Raum geschaffen, wie man ihn heute aus der Rechnertechnik kennt: vorzustellen wie ein Serverraum/Rechenzentrum. Heute dient das Gebäude als abgesetztes Stellwerk (ESTW-A) für das ESTW-Z Schöneberg.

Bild: vorgesehenes Bedienfeld für EZS 800

Rechts oben das bei der BR 480 vorgesehene Bedienfeld für das EZS 800.
Im EZS-Modus war z.B. eine automatische Fahrsteuerung vorgesehen ...

Für die Bedienung der Sicherungstechnik sah man eine Betriebszentrale vor, von der später einmal die gesamte Westberliner S-Bahn gesteuert werden sollte. Die unter dem Begriff "Regionalstellwerk" entstehenden Räumlichkeiten sollten am Gleisdreieck (Trebbiner Straße) ihren Platz finden.

Mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 wurde die Zukunft der Stadt entschieden verändert. Zum einen erkannte man, daß es nun neue Probleme geben wird, die zu lösen wären. Zudem war nun absehbar, daß es eine S-Bahn für die gesamte Stadt geben würde. Es war absehbar, daß die BVG nicht für die nächsten Jahre den S-Bahn-Betrieb behalten wird. Ein Signalsystem zu entwickeln, welches das System inkompatibel zum übrigen östlichen Netz macht, wurde als unsinnig gesehen. Das Projekt wurde daher gestoppt, die Bautätigkeiten sofort beendet. Die Planungen für den bereits begonnenen Ausbau des Südringes mussten daher wieder geändert werden.

Die Idee einer Zentrale für die Steuerung der S-Bahn wurde von der Deutschen Reichsbahn nicht verworfen. Auch interessierte sich die Deutsche Reichsbahn für das Signalübertragungssystem ESZ 800, aber aufgrund des damals überalterten Wagenparks und der damit verbundenen hohen Umbaukosten wurde diese Technologie zurückgestellt.

Bild: Taster für EZS 800

... der Triebfahrzeugführer hätte dann nach vollendeter Abfertigung diesen Taster (Startknopf) im Türbereich des Führerstandes betätigt, so das der Zug schon angefahren wäre, bevor er sich wieder hingesetzt hätte (beide Bilder vom 29. April 2004).

Das Projekt EZS 800 ist ad acta gelegt. Die Firma Siemens führt auf seiner Webseite für Verkehrstechnik dieses Projekt nicht mehr. Dafür wird gerade ein anderes Sicherungssystem eingeführt: Das Zugbeeinflussungssystem ZBS (ehemals auch Euro-Balise 21 genannt) übermittelt die Signalbegriffe direkt auf den Führerstand und kann bei Nichtbeachtung der Fahraufträge eine Schnellbremsung auslösen.


Autoren:
Markus Jurziczek, Mike Straschewski

Quellen und weiterführende Links:
[1] "Pegelmessungen EZS 800"; Änderungs-Mitteilung Bahnen vom 30.10.1986
Ein neues Zugsicherungssystem für die S-Bahn; Uwe Poppel; Berliner Verkehrsblätter; Ausgabe 9/85
Manuel Jacob, Der elektrische Betrieb auf der Berliner S-Bahn, Band 6: "Das Netz wächst zusammen", Neddermeyer Verlag, 2004

letzte Änderung:
24. August 2014

Veröffentlichung:
26. Oktober 2008

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