Nach Ausmusterung der 19 Viertelzüge der Baureihe 168 Anfang der 1960er Jahre waren nur noch die beiden Gepäckzüge vorhanden. Das Reichsbahnausbesserungswerk (Raw) Schöneweide die Aufgabe erhalten, zwei und dreiachsige Personenwagen preußischer Bauart zu rekonstruieren. Um diese Wagen auf dem Werkgelände bewegen zu können, wurde die Werkslokomotive E 176 11 genutzt, da diese über Scharfenbergkupplung für S-Bahn-Wagen und die Zug- und Stoßvorrichtungen der DR-Fahrzeuge (Schraubenkupplung) verfügte. Für das gesamte Aufgabenspektrum war sie jedoch zu leistungsschwach. Es musste also ein leistungsfähigeres Fahrzeug her, das universell die gesamte Aufgabenpalette des Raw Schöneweide abdecken konnte. So wurde ein Forderungsprogramm mit folgenden wesentlichen Merkmalen aufgestellt:
Diese Merkmale zielten darauf ab, ein vorhandenes S-Bahnfahrzeug für diese Zwecke umzubauen. Die Wahl fiel auf den ET 168 043, der aus dem Güterzug herausgelöst wurde. Während eines mehrmonatigen Umbaus im Raw Schöneweide erhielt der Triebwagen beidseitig einen Führerstand und eine stabile Pufferbohle, die die Scharfenbergkupplung und die seitlichen Puffer aufnahm. Am 31. März 1963 wurde der Triebwagen unter gleicher Nummer in Dienst gestellt. Unter dem Spitznamen "Jumbo" verkehrte der Triebwagen von nun an im Berliner-S-Bahnetz. Für die verschiedenen Altfahrzeuge/beschreibung konnte der Steuerstrom über Adapter gekuppelt werden.
Der Schlepptriebwagen Jumbo 278 001 am 6. April 1979 in Berlin Ostbahnhof.
Länge über Puffer | 18.220 mm |
Länge über Kupplung | 18.230 mm |
Achsfolge | Bo'Bo' |
Antriebsleistung | 4 x 90 kW = 360 kW |
Höchstgeschwindigkeit | 80 km/h |
Technische Daten
Sein Einsatz als Meßfahrzeug
In den 1980er Jahren wurde sein Einsatzgebiet als Messfahrzeug für Kurzschlussversuche erweitert. Zur Gewährleistung der Sicherheit im elektrischen S-Bahnbetrieb muß bei Gefahrsituationen jederzeit die unter Spannung stehende Stromschiene ausschaltbar sein. Dazu hat jeder Triebfahrzeugführer einen Kurzschließer im Führerstand zur Verfügung, den er bei Gefahr betätigen kann.
Der dadurch eingeleitete Kurzschluß - eine elektrische Verbindung zwischen der Stromschiene und der Fahrschiene (Rückleitung) - muß zum sofortigen Ausschalten der Energieeinspeisung in den benachbarten Gleichrichterwerken führen. Dafür müssen jedoch die Schalter im Gleichrichterwerk für den möglichen Kurzschlußstrom eingestellt sein und mit Sicherheit im Kurzschlußfall auch ausschalten.
Ein Kurzschluß ohne Abschaltung im Gleichrichterwerk führt zu einer hohen Gefährdung von Personen im Zug und an der Strecke. Zur Ermittlung des Kurzschlußstromes und der ständigen Abschaltsicherheit bei Kurzschlüssen jeder Art sind regelmäßige Messungen erforderlich.
Die Vorgeschichte des Messfahrzeuges
Zum Nachweis der Kurzschlußsicherheit bei der S-Bahn im gesamten Netz müsste für jeden Streckenabschnitt ein Messplatz in den Gleichrichterwerken und an den Strecken mit hohem Aufwand realisiert werden. Deshalb kam man auf die Idee, den im damaligen Reichsbahnausbesserungswerk Berlin-Schöneweide beheimateten "Jumbo" als Messfahrzeug zu nutzen. Anlässlich einer notwendigen Instandhaltung des Fahrzeugs wurde 1982/83 ein ständiger Messplatz im Fahrzeug aufgebaut. Damit verfügte man über einen mobilen Messplatz und konnte ohne technischen Aufwand im gesamten Streckennetz Kurzschlussmessungen durchführen.
Am 17. März 1983 wurde durch die damalige Technische Überwachung der Deutschen Reichsbahn die Genehmigung zum Einsatz des "Jumbo" als Messfahrzeug erteilt.
Vereint nebeneinander: Jumbo im Hauptstadtlack und der alte Gerätezug des S-Bahnbetriebswerkes Friedrichsfelde (5. August 1988)
Der Messplatz
Der Messplatz mit einer Belastung des Fahrzeugs von 1,5 Tonnen bestand aus:
Zur Funktionsfähigkeit des Messplatzes waren erforderlich:
Die Kurzschlußmessung
Betriebliche Vorbedingungen:
Für jede Messfahrt wurde eine besondere Fahrplananordnung S-Bahn erarbeitet. Durch Telegramm wurde die Fahrplananordnung in Kraft gesetzt. Danach konnte der "Jumbo" zur Messfahrt auf einem Streckenabschnitt eingesetzt werden. Aus Rücksicht auf den pünktlichen S-Bahnbetrieb erfolgten die Messfahrten überwiegend in der nächtlichen Betriebspause.
Technische Vorbedingungen:
In den betreffenden Gleichrichterwerken der festgelegten Strecke wurde nur ein Gleichrichter eingeschaltet und jeder zu messende Streckenabschnitt einseitig eingespeist.
Messablauf:
Der "Jumbo" rollt ohne Energieaufnahme auf den vorher örtlich bestimmten Streckenpunkt (Messpunkt) zu und das Bedienpersonal betätigt den Kurzschließer am Messplatz. Es tritt ein Kurzschluß ein, der auftretende Kurzschlußstrom wird vom Oszillografen aufgezeichnet und der Schalter des zugehörigen Gleichrichterwerkes schaltet den Kurzschluß ab. Mit dieser Messung hat man den Kurzschlußstrom in seiner Höhe erfasst und die Kurzschlußsicherheit geprüft.
Sollte der Schalter im Gleichrichterwerk nicht ausschalten, schaltet der Schalter am Messplatz mit einer Verzögerung von einer Sekunde den Kurzschluß ab. In diesem Fall muß der Schalter im Gleichrichterwerk geprüft und neu eingestellt werden
Nachgeschichte des Messfahrzeugs
Der "Jumbo" wurde von 1983 bis 1989 für insgesamt 39 Messfahrten im Ostberliner Streckennetz genutzt. Davon wurden zwei Messfahrten während des S-Bahnbetriebes am Tage, jedoch mit Beeinträchtigung des Fahrplanes, durchgeführt.
Mit Beginn der Grunderneuerung der S-Bahnanlagen zu Anfang der 90er Jahre und den neuen Rahmenbedingungen zur Betriebs- und Baudurchführung bei der S-Bahn war das Messfahrzeug nicht mehr gefragt. Dazu kam, dass die Initiatoren des rollenden Messplatzes nicht mehr im Dienst waren. So wurde 1992 die Messtechnik entnommen und dann 1999 der Messplatz demontiert. Damit ist eine technisch interessante Episode zur Nutzung des "Jumbo" als Messfahrzeug zu Ende.
Im Jahre 1990 erhielt das Fahrzeug bei einer Hauptuntersuchung nicht nur neue Drehgestelle der BR 275, auch die Farbgebung wurde mit bordeauxrot/anthrazit der BR 270 angepasst [1]. Bis zu seiner Ausmusterung wegen Fristablauf am 10. Dezember 2004 versah dieses Arbeitsfahrzeug zuverlässig und meistens unbemerkt vom Alltagsbetrieb seinen Dienst. Es war das bis dato älteste, betriebsfähige Fahrzeug der Berliner S-Bahn. Der Verein Historische S-Bahn e.V. nahm ihn anschließend in seinen Fahrzeugbestand auf.
Autor:
Michael Dittrich, Mike Straschewski
Quellen:
[1] Kurzmeldung der Berliner Verkehrsblätter, Heft 4/1990
Festbroschüre "75 Jahre Hauptwerkstatt Schöneweide"; S-Bahn Berlin GmbH; 2002
Verkehrsgeschichtliche Blätter, Heft 1/2005
BSW-Freizeitgruppe Bahnstromanlagen S-Bahn
Neue elektrische Züge für Berlin; Hans-Joachim Hütter; Verkehrsgeschichtliche Blätter; Heft 6/2001
weiterführende Buchtipps:
Der Wagenpark der Berliner S-Bahn; Carl W. Schmiedeke; Lokrundschau Verlag Hamburg; 1997
letzte Änderung:
26. Oktober 2008
Veröffentlichung:
26. Oktober 2008