Ein Sittlichkeitsverbrecher versetzt die Frauen im ausgedehnten Laubengelände zwischen Rummelsburg, Friedrichsfelde und Karlshorst in Angst und Schrecken. Über dreißig versuchte und vollendete Notzuchtverbrechen werden angezeigt, aber die Polizei kann ihn nicht fassen. Einmal aber merkt der Täter nicht, daß die Frau, die er sich als Opfer ausgesucht hat, nicht allein ist. Ihr Mann und dessen Freund folgen ihr in einiger Entfernung, und als sie schreit, sind die beiden da und verprügeln ihn fürchterlich. Doch er kann ihnen entkommen, und nach diesem für ihn schrecklichen Erlebnis ändert er sein Verhalten. Er beschließt, die Frauen, auf die er es abgesehen hat, zu betäuben, um sie am Schreien und an der Gegenwehr zu hindern und erst dann "zu gebrauchen", wie er es später in seinem Geständnis immer wieder formuliert.
Am 20.9.1940, es ist schon sein fünftes Kapitalverbrechen, wechselt er auf die S-Bahn über. Da stößt er die ledige Gerda Kargoll um 23.35 Uhr zwischen den Bahnhöfen Wuhlheide und Karlshorst aus dem fahrenden Zug. Wie durch ein Wunder überlebt die Frau und kann der Polizei berichten, daß der Täter eine Eisenbahneruniform getragen hat. Dasselbe gibt am 4.11.1940 die 30jährige Angestellte Elisabeth Bendorf zu Protokoll. Sie wird zwischen Hirschgarten und Köpenick aus dem Zug geworfen, vorher aber noch durch Schläge mit einem Bleikabel schwer verletzt. Die B. erleidet eine schwere Gehirnerschütterung, bleibt aber ebenfalls am Leben.
Einen Monat später jedoch gibt es die erste Tote. Unter dem Zeichen 4 P Js 3001/40 heißt es dazu in den Akten: "Am 3.12.1940, gegen 24 Uhr, wurde die 26jährige Krankenschwester Elfriede Franke zwischen den Bahngleisen bei der Station Karlshorst mit schweren Schädelverletzungen tot aufgefunden. Nähere Tatumstände konnten nicht ermittelt werden; es war aber zu vermuten, daß es sich um den gleichen Täter wie in den voraufgegangenen Fällen handele." Mit Ausnahme des Völkischen Beobachter beginnen die Zeitungen jetzt, vom "S-Bahn-Mörder" zu sprechen. Er wird zum Symptom seiner Zeit. Es herrscht Krieg, und die Stadt ist total verdunkelt. Die ersten Bomben fallen auf Berlin. Immer mehr Männer "stehen im Felde", und immer mehr Frauen nehmen ihre Arbeitsplätze ein, müssen sehr früh und sehr spät alleine in den Bahnen sitzen. Juden werden deportiert, in den Konzentrationslagern wird gemordet, sind die wahren Massenmörder am Werke.
Zwischen Rummelsburg und Karlshorst will die grausige Serie kein Ende nehmen. Sechs versuchte und acht vollendete Morde werden es schließlich sein, obwohl das Reichskriminalhauptamt am Werderschen Markt die besten Kommissare des ganzen Reichs den S-Bahn-Mörder jagen läßt, und die NSDAP einen Geleitschutz für alleinreisende Frauen ins Leben ruft. Der S-Bahn-Mörder ist unter den Parteigenossen, die sich dazu anbieten...
Tatortlageplan: Entlang der heutigen S-Bahnlinie 3 schlug Paul Ogorzow mehrfach zu.
Der Plan wurde aus dem Buch "Wie ein Tier" entnommen, die Reproduktion erfolgt mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH.
Wilhelm Lüdtke, ist der Leiter der Mordkommission, und er tut alles Menschenmögliche, um den S-Bahn-Mörder zu fassen. Was wissen er und seine Beamten? Daß der Täter Eisenbahner ist und höchstwahrscheinlich im nahen Bahnbetriebswerk Rummelsburg beschäftigt ist. Die Aussagen der beiden überlebenden Frauen zeigen das ebenso an wie das gefundene Bleikabel und die Tatsache, daß der Mann, um mit den Frauen ins Gespräch zu kommen, nach ihrer Fahrkarte fragt. Das Gelände zwischen den S-Bahnstationen Karlshorst und Betriebsbahnhof Rummelsburg gleicht einer belagerten Festung. Kriminalbeamte sind ins Bw eingeschleust worden, und rund 5.000 Reichsbahnangehörige, verteilt auf nahezu dreißig Dienststellen, werden unter die Lupe genommen. Doppelstreifen der Polizei und der NSDAP patroullieren Nacht für Nacht durch die Gegend. Als Frauen verkleidete Beamte und später auch Kriminalassistentinnen sitzen als Lockvögel in den Zweite-Klasse-Abteilen der Züge zwischen Ostkreuz und Erkner. Die Sperren der Bahnhöfe sind mit Kriminalbeamten in Eisenbahneruniformen besetzt. Mehrmals wird das Gebiet hermetisch abgeriegelt, jeder Fußgänger, jeder Radfahrer systematisch kontrolliert. Alles umsonst.
Mehrere kleine Gauner faßt man, das ist alles. Der S-Bahn-Mörder läßt sich von alledem nicht stören. Auch Deutschlands beste Kriminalbeamte scheinen ihm nicht beikommen zu können.
Dabei ist Paul Ogorzow alles andere als ein genialer Verbrecher. Er verfügt über nichts weiter als eine gehörige Portion Bauernschläue, den Instinkt eines Tieres und die irrwitzige Gewißheit eines Menschen mit niedrigem IQ, daß ihm als Parteigenossen niemand etwas anhabe könne, er als Pg. quasi mit einer Tarnkappe umherliefe. Seine beste Tarnung aber ist seine absolute Bürgerlichkeit. Ehrbarer Reichsbahner ist er, Hilfsweichensteller, mal auch Telegraphist, ist zuständig für die Weichen- und Signallaternen auf seiner Strecke, immer korrekt und zuverlässig, hat häufig Bereitschaftsdienst und sitzt dann allein im Stellwerk Vnk an der Zobtener Straße, gleich da, wo die Lauben beginnen. Auch ist er des öfteren dienstlich unterwegs, so daß keiner Verdacht schöpfen kann, wenn man ihn zu Schichtbeginn und -ende in den Zügen sitzen sieht. Seine Kollegen wissen nur Gutes von ihm zu sagen. Und er hat Frau und Kinder, die Nachbarn sehen ihn im Vorgarten Gemüse pflanzen und hinter dem Haus die Kirschen pflücken. Mit seinem Sohn schmust er viel und oft. Wer soll da in Karlshorst und im Bw schon Böses von ihm denken.
Am 5. Juni 1937 hat er die zwei Jahre jüngere Verkäuferin Gertrud Z. geheiratet, die ein Kind, die Ingrid, mit in die Ehe bringt. Später haben sie gemeinsam einen Sohn. Erst wohnen sie bei seiner Schwiegermutter in der Dorotheastraße 24 im Paterre, dann bekommen sie oben im selben Haus eine eigene Wohnung. Manchmal fährt er mit der S-Bahn von Karlshorst zum Dienst, meist aber läuft er oder schwingt sich aufs Rad.
Das ehemalige Wohnhaus des S-Bahn-Mörders in der Dorotheastraße 24 nahe dem S-Bahnhof Karlshorst.
Paul Ogorzow ist am 29.9.1912 in Muntowen auf die Welt gekommen, am Ixt-See, in Ostpreußen also, im Kreise Sensburg, und zwar als uneheliches Kind. Marie Saga, die Mutter, ist Landarbeiterin. Sein Großvater, ein Hirte, meldet ihn unter dem Namen Paul Saga auf dem Standesamt an und unterzeichnet die Urkunde mit den berühmten drei Kreuzen. 1924 adoptiert ihn dann der Gutsarbeiter Johann Ogorzow. Man zieht in die Nähe von Nauen, in das Dorf Wachow, wo Ogorzow als Landarbeiter tätig ist, auch steht er im Stahlwerk Brandenburg am Hochofen. Die Arbeit ist schwer, und er freut sich, daß er 1934 von der Reichsbahn als Gleisbauarbeiter eingestellt wird. Über verschiedene Stationen kommt er schließlich zum Bw Rummelsburg und wohnt bis zu seiner Heirat möbliert in Berlin-Karlshorst, Dönhoffstraße 37. Als er zum 'Massenmörder' wird, lautet seine Adresse aber Dorotheastraße 24, das ist ein nobles Gründerzeithaus zwischen der Karl-Egon- und der Junker-Jörg-Straße.
Nebenan, Nr. 25, befindet sich eine Fleischerei. Als der Fleischermeister Schumann das Plakat ans Schaufenster hängt, mit dem man nach dem S-Bahn-Mörder fahndet, sieht ihm Ogorzow dabei zu. "Der wohnt vielleicht nebenan", sagt Schumann. "Da könnten Sie recht haben", lacht Ogorzow.
Die Mordkommission Rummelsburg vermag Ogorzow noch immer nicht zu fassen. Ende 1940, dreizehn der vierzehn Kapitalverbrechen hat der S-Bahn-Mörder inzwischen schon begangen, entschließt sich Wilhelm Lüdtke in seiner Verzweiflung zu einem Trick. "Wir müssen ihn aus der Reserve locken", sagt er zu seiner Gefolgschaft. "Es hat keinen Zweck mehr, die Überwachung wird eingestellt." In Wirklichkeit aber gruppiert er seine Beamten nur um. Doch Ogorzow begeht seine nächste Tat nicht mehr in der S-Bahn, sondern wieder - im nun unbewachten - Laubengelände. Am 3.7.1941 wird die geschiedene 35jährige Ehefrau Frieda Koziol in der Kolonie 'Gutland II' tot aufgefunden. Sie ist vergewaltigt worden. Die Zertrümmerung des Schädels zeigt die Handschrift des S-Bahn-Mörders.
"Diesmal haben wir ihn!" ruft Lüdtke, denn neben der Ermordeten findet sich ein deutlicher Abdruck eines Herrenschuhs der Marke Salamander-'Fußarzt', Größe 40. Anhand von Bezugsschein-Karteien werden 20.000 Lichtenberger überprüft, und man findet den Mann, der diesen Schuh getragen hat: einen Tischler, der zudem noch wegen eines Sittlichkeitsdelikts vorbestraft ist.
Endlose Verhöre beginnen, doch Hermann W. will und will kein Geständnis ablegen. Er sei nur als 'Ritzenkieker' und kleiner Einbrecher unterwegs gewesen und nur rein zufällig über die Leiche gestolpert. Es scheint das Einfachste, den Voyeur und kleinen Eierdieb zum S-Bahn-Mörder zu machen und damit die Nazi-Größen, die immer nervöser werden ('Was soll das Ausland von uns denken!?') ruhigzustellen, doch Lüdtkes Instinkt sagt ihm: Der war es nicht. Aber seine ganze kriminalistische Kunst reicht nicht aus, Ogorzow auf die Schliche zu kommen, erst der Zufall hilft ihm weiter. Ein Reichsbahnkollege sieht Ogorzow am Stellwerk Vnk, wo er Schicht für Schicht seinen Dienst versieht, über den Zaun klettern und im nahen Laubengelände verschwinden. Allerdings nicht, um einen Mord zu begehen, sondern, wie sich nach dem Verhör ergibt, seine Geliebte zu einem Schäferstündchen aufzusuchen ... Damit scheint die Mordkommission wiederum am Ende zu sein, doch Lüdtke schafft es noch, Ogorzow weichzuklopfen, indem er ihn durchs Laubengelände führt und ihn mit einem schwerverletzten Opfer konfrontiert, vor allem aber dadurch, daß er Ogorzow die präparierten Schädel der ermordeten Frauen vor Augen hält. In einem abgedunkelten Zimmer fällt plötzlich helles Lampenlicht auf das Tablett, auf dem sie liegen. Ogorzow sagt, er habe die Taten im 'Rausch' begangen und schuld an allem sei ein jüdischer Arzt, der ihn im Verlaufe einer Tripper-Behandlung "versaut" habe.
Er wird am 24.7.1941 vom Sondergericht III des Landgerichtes Berlin als Gewalttäter und "Volksschädling" zum Tode verurteilt und einen Tag später in Plötzensee geköpft.
Axel Alt beschreibt in seinem 1944 erschienen Roman 'Der Tod fuhr im Zug' die Fahndung nach Ogorzow, und ich versuche im Jahre 1995 als -ky, in meinem dokumentarischen Roman 'Wie ein Tier' ein Psychogramm Ogorzows zu zeichnen und ihn als logische Konsequenz seiner Zeit zu sehen, als Folge einer Erziehung mit Gewalt und Unterdrückung jeder Sexualität wie auch der Naziherrschaft, der Verdunkelung der Stadt und einer gewissen Dumpfheit des Lebens. Karlshorst wurde 100 und kam nicht umhin, Paul Ogorzow in seine Festschrift aufzunehmen. Wie heißt es bei Diderot in Rameaus Neffe: "Man spuckt auf einen kleinen Schelm, aber man kann einem großen Verbrecher eine Art Achtung nicht verweigern. Sein Mut setzt Euch in Erstaunen, seine Grausamkeit macht Euch zittern, man ehrt überall die Einheit des Charakters."
Tun wird das?
Nein, wir haben nur ein Stück S-Bahn-Geschichte aufgeschrieben und in Erinnerung gerufen, auch eines der unheimlichsten Kapitel im Berliner Pitaval und der Chronik der Kriegsjahre 1939-45.
Autor:
Horst Bosetzky
Vom Autor ist zum Thema das Buch "Wie ein Tier. Der S-Bahn-Mörder: Dokumentarischer Roman" in der S.Fischer Verlag GmbH erschienen.
Das Buch ist derzeitig nur als Taschenbuch bei dtv unter der Nr. 20021 erhältlich.
Danksagung:
Wir bedanken uns bei der S.Fischer Verlag GmbH für die Veröffentlichungsgenehmigung des Tatortplanes.
letzte Änderung:
26. Oktober 2008
Veröffentlichung:
26. Oktober 2008