Die Deutsche Reichsbahn (DR) der DDR litt in all ihren Jahren immer wieder am Personalmangel. Selbst für solche Traumberufe wie Triebfahrzeugführer fanden sich nicht immer genug qualifizierte Arbeitskräfte. Durch das stetig wachsende Transportaufkommen sowie auch ein in der DDR vorhandener Kostendruck wurden mehrere Rationalisierungsmaßnahmen zur Personaleinsparung geplant und durchgeführt. Für den Bereich der Triebfahrzeugpersonale betraf dies u.a. den Einbau der Sicherheitsfahrschaltung (Sifa) auf den Triebfahrzeugen und die darauffolgende Einführung des Einmannbetriebes (EMB). Ziel war es, den zweiten Mann, den Triebwagenschaffner, einzusparen.
Zugabfertigung mit Triebwagenschaffnerin - 1: Die Schaffnerin beobachtet den Fahrgastwechsel und gibt durch Klopfen an die Seitenscheibe dem Triebfahrzeugführer (Tf) den Türschließauftrag. |
Zugabfertigung mit Triebwagenschaffnerin - 2: Nachdem sie den Abfahrauftrag der Aufsicht (Befehlsstab) an den Tf übermittelt hat, beobachtet sie den Zug bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof. Die vorderen beiden Türen blieben durch pneumatisches Absperren vom Türschließvorgang verschont. |
Bevor jedoch der EMB eingeführt werden konnte, mußten erst noch diverse technische Voraussetzungen geschaffen werden. Dazu fanden die folgenden Arbeiten statt:
Die Umrüstung begann im Jahre 1963, der erste im Jahre 1964 umgebaute Vollzug gehörte zur BR 167. Er stand nun für Probe- und Schulungsfahrten zur Verfügung. Nachfolgende Viertelzüge wurden im Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) Schöneweide im Rahmen der Instandhaltungsstufen T4 und T5 umgebaut.
Um das Funksignal durch den gesamten Zug durchschleifen zu können, wurden bei der BR 165 die Leitungen 7 und 9 (vormals Pumpenselbstschalter und Türschließeinrichtung) neu belegt. Bei der BR 167 nahm man die Reserveleitung 13 und die neu zu verlegende Leitung 14. Die Leitung 13 wurde schon einmal im zweiten Weltkrieg benutzt. Die Verdunklungsverordnung vom 23. Mai 1939 (Achte Durchführungsverordnung zum Luftschutzgesetz) schrieb im §10, Absatz 1:
Lichtquellen im Freien, die nicht außer Betrieb gesetzt werden, sind in der Weise abzublenden, daß bei Dunkelheit und klarer Sicht aus 500 Meter Höhe in senkrechter und schräger Blickrichtung für ein normales Auge weder unmittelbare noch mittelbare Lichterscheinungen wahrzunehmen sind. [1]
Die vorhandene Reserveleitung wurde nun belegt: mittels eines Impulsschalters wurde der Lichtkreis 1 eines jeden Wagens zusätzlich über einen Widerstand angesteuert, der Lichtkreis 2 wurde gänzlich abgeschaltet [2]. Mit dem nun in den Wagen vorhandenem Dämmerlicht entsprach die DR der Verdunklungsverordnung. Allerdings nutzten dieses Schummerlicht diverse zwielichtige Gestalten für ihre Straftaten aus, u.a. auch der berühmt-berüchtigte Paul Ogorzow.
Zurück zum Einmannbetrieb: ursprünglich war als Starttermin der 1. April 1965 vorgesehen [3]. Jedoch wurde der EMB schon am 25. Februar 1965 auf dem Streckenabschnitt Erkner - Friedrichstraße eingeführt [4] [5]. Bis zum 7. Oktober 1969 plante die DR, ihr gesamtes Streckennetz auf das neue Verfahren umzustellen [3]. Über den Beginn und Ende der Umstellung gibt die folgende Tabelle Aufschluß:
Ostberlin | Westberlin | |
Einführung EMB | 25. Februar 1965 | 1. November 1967 |
auf der Zuggruppe | "Fee" (Friedrichstraße—Erkner) | "Heinrich" (Friedrichstraße—Spandau West) |
Abschluß EMB | 1. November 1968 | 1. Oktober 1969 |
auf der Zuggruppe | "Konrad" (Oranienburg—Zentralflughafen Berlin-Schönefeld) a) | Zuggruppe 2 (Lichterfelde Süd—Gesundbrunnen) |
Tabelle über die Einführung des Einmannbetriebes. Je nach Quellenlage sind unterschiedliche Daten angegeben.
a) Roland Ebert und Hans-Joachim Hütter schreiben in den Verkehrsgeschichtlichen Blättern, Heft 6/1983 im Beitrag "Die S-Bahn-Strecke Velten—Hennigsdorf":
Der Einmannbetrieb (EMB) wurde zwischen Velten und Hennigsdorf am 1. August 1968 aufgenommen. Von allen Berliner S-Bahn-Strecken war es die letzte, auf der die neue Betriebsweise Eingang fand.
Einzig die Zuggruppe 5 (Zehlendorf - Düppel) wurde nicht umgestellt: da der Haltepunkt Düppel (und ab dem 20. Dezember 1972 der Haltepunkt Zehlendorf Süd) weder mit einer Aufsicht noch mit einem Fahrkartenverkauf ausgestattet war, oblag die Einnahme des Fahrgeldes dem Triebwagenschaffner. Aufgrund dieser personellen Besetzung erübrigte sich auf dieser Stummelstrecke die Einführung des EMB.
Pünktlich zum 20. Jahrestag der DDR konnte die DR an die Staatsführung Vollzug melden.
War die Sifa defekt, musste der Sifa-Störschalter betätigt werden, damit der Zug weiterfahren konnte.
Diese Störschalter wurden dazu umgeklappt, so daß die runde rotweiße Scheibe hinter dem Fenster sichtbar wurde. Somit war für jeden Eisenbahner diese Störung sofort erkennbar.
Im Bild: Ein Zug der Bauart Olympia - 276 021 in der Kehranlage Spandau West (1978).
Erste Erfahrungen nach der Umstellung
Der Einmannbetrieb ist heute bei der Eisenbahn alltäglich. Triebfahrzeugführer aller Eisenbahnverkehrsunternehmen sind "Einzelkämpfer", allein mit sich gegen Fahrplan, Störungen und ihren persönlichen Problemen. Die Umstellung auf den Einmannbetrieb veränderte nicht nur bei den Triebfahrzeugpersonalen die bis dato vorhandenen Gepflogenheiten, auch in den Werkstätten und Büros mußten umfangreiche organisatorische Änderungen durchgeführt werden.
Im Vorfeld der Einführung des EMB wurden alle Triebfahrzeugpersonale in den neuen Vorschriften belehrt und in die Handhabung der Sicherheitsfahrschaltung theoretisch und praktisch eingewiesen. Als besonders nachteilig wiesen sich Störungen an den Zügen aus: da, wo vorher zwei Personen sich gegenseitig bei der Fehlersuche und -behebung unterstützen konnten, oblag nun diese Arbeit nur noch einem einzigen. Die Störungsbeseitigung kostete nun mehr Zeit und verursachte dementsprechend auch mehr Verspätung. Das resultierte u.a. aus Tätigkeiten, die vorher bei Anwesenheit eines zweiten Personals nicht nötig waren: So mußten nun die Züge gegen unbeabsichtigtes Bewegen mittels der Handbremse gesichert und Spitzenführerstände gegen unbefugte Benutzung verschlossen werden. Zum Auffinden und Eingrenzen von Fehlern mußten nun auch die anderen Führerstände zeitweise in Betrieb genommen werden.
Erschwerend kam hinzu, daß zeitweise ein Mangel an Tausch und Ersatzeilen vorlag bzw. vorhandene Bauteile unter Qualitätsmängel litten. Auch Signalstörungen verursachten nun Verspätungen. Wo früher der Triebwagenschaffner die Eintragungen in das Fahrsperrenbuch vornahm, oblag diese Aufgabe nun dem Triebfahrzeugführer. Damals wie heute darf er diese Schreibarbeiten nur im Stillstand des Zuges ausführen, was wiederum zu Zeitverlusten führt.
Des weiteren mußten die technischen Vorbereitungs- und Abschlußzeiten den neuen Gegebenheiten angepaßt werden. Da nun der Triebfahrzeugführer den Zug alleine vorbereiten bzw. abrüsten mußte, benötigte er mehr Zeit. In den Bahnbetriebswerken und Triebwagenhallen wurde dem Triebfahrzeugführer anfangs noch ein zweiter Mann für diese Arbeiten gestellt. Aufgrund von Personalmangel wurde Ende der 1960er Jahre diese Regelung aufgegeben und alle Zeiten vereinheitlicht.
Wolfgang Genß, ehemaliger Triebfahrzeugführer bei der S-Bahn, erinnert sich an die Einführung des Einmannbetriebes:
Nach einer kurzen Einweisung wurde an drei weiteren Tagen mitgefahren. Für den EMB wurden anfangs nur bestimmte Züge, die BR 167 ausgewählt. [...] Auf der Stadtbahn dauerte die Umstellung noch einige Zeit, da dort die älteren Baureihen (BR 165) fuhren. Die modernisierten 167 kamen immer gleich zum S-Bahnbetriebswerk Grünau, wir Friedrichsfelder behielten dafür die "alten" Züge.
Der Einmannbetrieb war eine Umstellung. Alles ging über Funk, die Lichtzeichen zur Abfertigung kamen erst später auf wie auch die Fernbeobachtungsanlagen. Der Bahnhof Grünbergallee war mit einer der ersten Bahnhöfe, die auf eine Fernbeobachtungsanlage umgerüstet wurden.
Der frisch hauptuntersuchte 275 189 vor der Prüfhalle des Raw Schöneweide.
Bis in die 1980er Jahre hinein wurde an den Querträger des Hauptrahmens das Kürzel "EMB" zur Kennzeichnung des jeweiligen Viertelzuges angeschrieben (undatiert).
Auch die Dienstplangestaltung mußte überprüft und angepaßt werden. Um die Arbeitsbelastung gleichmäßig zu verteilen, wurden Dienstpläne in einem 18-Tage-Rhythmus aufgebaut, den jeder planmäßig eingesetzte Triebfahrzeugführer zu durchlaufen hatte. Innerhalb der vorgegebenen Schichtwoche achtete man darauf, daß die "großen" Leistungen in der Mitte dieser Woche und die "geringeren" am Anfang und am Ende untergebracht wurden. Die Kilometerleistung einer Dienstschicht lag bei höchstens 300 Kilometern, dies wurde Anfang der 1970er Jahre als "eine Grenze der möglichen Leistungsfähigkeit eines Triebfahrzeugführers bei der Berliner S-Bahn" [6] angesehen.
Zu guter Letzt gab es damals bei der Dienstplangestaltung das Problem der Pausengewährung bzw. -einhaltung. Während Triebfahrzeuge aufgrund der Umlaufgestaltung rentabel eingesetzt werden können (z.B. kurze Wendezeiten an den Endbahnhöfen), standen dem die arbeitsschutzrechtlichen Bestimmungen für die Personale gegenüber. Damals arbeitete man größtenteils noch nach dem Grundsatz: "eine Schicht - ein Zug - ein Mann". Um die Pausen gewähren zu können, wurden die Wendezeiten an den Endbahnhöfen entsprechend verlängert, auch wenn dafür ein Triebfahrzeugumlauf mehr vonnöten war. Wo dies nicht möglich war, arbeitete man mit entsprechenden mehreren Kurzpausen bzw. mit Personalwechseln auf Unterwegs- bzw. Endbahnhöfen, auch wenn letztere Verfahrensweise zu einem Personalmehrbedarf führte.
Heutzutage ist diese Pausenregelung bei der Berliner S-Bahn gang und gebe. Aufgrund der von den Ländern Berlin und Brandenburg vorgegebenen Zugbestellungen und vereinbarten Zahlungen wurden alle Zugumläufe sowie der Personaleinsatz optimiert. So kommen die Triebfahrzeugführer teilweise heute schon während einer Dienstschicht auf den unterschiedlichsten Streckenabschnitten (z.B. Nordsüd-S-Bahn und Stadtbahn) zum Einsatz. Ebenso ergeht es den Fahrzeugen: diese können beispielsweise am Morgen auf einer Zulaufstrecke zur Ringbahn verkehren, tagsüber dann auf der Ringbahn fahren, um am Abend via der Stadtbahn oder Nordsüd-S-Bahn eine Betriebswerkstatt anzulaufen bzw. auf einer anderen Vorortstrecke auszusetzen. Nachteilig bei beiden Regelungen ist die Handhabung bei Störungen im Betriebsablauf, führt diese doch zu einem erhöhten Dispositionsaufwand in der Betriebszentrale und den beiden Betriebswerken.
Ein kleines Fazit:
Mit der Einführung des Einmannbetriebes fand die wohl größte Personalrationalisierung und Kostensenkung bei der Eisenbahn statt. Die Belastung der Fahrpersonale ist seitdem jedoch nicht gleich geblieben: aufgrund wegfallender Arbeitsplätze beim Aufsichtspersonal auf den Bahnsteigen sowie der Einführung des Abfertigungsverfahrens ZAT ist sie noch weiter gewachsen. Dort, wo ehemals drei Personale zur Abfertigung eines Zuges vonnöten waren, muß heute teilweise nur noch ein Einzelner diese Aufgaben bewältigen. Und das bei ständiger Optimierung der Dienst- und Schichtpläne - denn nur ein fahrender Triebfahrzeugführer bringt Geld ein. Und somit lastet immer mehr Verantwortung auf einer Berufsgruppe, die im unregelmäßigen Schichtdienst tagein, tagaus ihre Arbeit vollbringt und mit Störungen im Betrieb und den Auswüchsen einer Gesellschaft umgehen muß. Und sie sind nicht die einzigen...
Autor:
Mike Straschewski
Quellen:
[1] Achte Durchführungsverordnung zum Luftschutzgesetz (Verdunklungsverordnung) vom 23. Mai 1939
[2] Züge der Berliner S-Bahn - Die eleganten Rundköpfe; Schmiedeke/Müller/Hiller, Verlag GVE 2003, S. 81
[3] Als der Osten durch den Westen fuhr; Burghard Ciesla; Verlag Böhlau 2006; S.203
[4] 75 Jahre Berliner S-Bahn - Eine Chronik; Berliner Verkehrsblätter 8/99
[5] Die Fachzeitschrift "Eisenbahnpraxis", Ausgabe 9/1971 gibt als Einführungstermin den 3. Mai 1965 an
[6] Erfahrungen aus der Ein-Mann-Besetzung der Triebfahrzeuge der Berliner S-Bahn; Claus Seiler, Eisenbahnpraxis Heft 9/1971, S.300
Vorläufige Beschreibung der Einrichtungen für den Einmannbetrieb der elektrischen Berliner S-Bahn; Ausgabe vom 1.8.1967
Einmann-Betrieb und UKW-Zugabfertigung auf der Berliner S-Bahn; Der Stadtverkehr Heft 7/1986
letzte Änderung:
26. Oktober 2008
Veröffentlichung:
26. Oktober 2008