Die Übernahme der Betriebsrechte der S-Bahn in Westberlin durch die BVG


Die (Ost-) Deutsche Reichsbahn war nach dem Krieg auch in Westberlin für den Betrieb der Berliner S-Bahn zuständig. Von dem Verkehrsrückgang, den die Netztrennung am 13. August 1961 und der darauf folgende Boykott verursachten, erholte sie sich nie wieder. Stetig sinkende Fahrgastzahlen führten ab 1974 zu unterschiedlichen Forderungen der DDR an den West-Berliner Senat, sich an den Kosten des S-Bahnbetriebs zu beteiligen. Weil dieser darauf nicht einging, sollten die Kosten durch drastische Verkehrseinschränkungen gesenkt werden. Dagegen wehrten sich die West-Berliner Eisenbahner ab 17. September 1980 mit einem Streik, der praktisch den gesamten West-Berliner Eisenbahnverkehr und den Transitverkehr mit der Bundesrepublik lahm legte, den sie aber am 23. September ergebnislos aufgeben mussten.

Frohnau

8. Januar 1984: Letzter Zug der Reichsbahn in Frohnau.

Am Sonntag, den 28. September 1980, nahm die Reichsbahn den Betrieb auf nur noch auf 72,6 km des bisher 144,8 km langen Netzes wieder auf. Auf den anderen Strecken ruhte der Verkehr weiterhin. Während die Westberliner Bevölkerung bisher kaum Notiz von der S-Bahn genommen hatte, stand diese jetzt plötzlich im Interesse der Öffentlichkeit. Fachleute einer "S-Bahn-Kommission", die der Senat nun einsetzte, erstellten verschiedene Konzepte zur Wiederherstellung und Integration des traditionsreichen Verkehrsmittels. Man schätzte einen Aufwand von 1,8 Mrd. DM, um ein Netz von 100 km Länge einschließlich der benötigten Fahrzeuge auf U-Bahn-Standard zu bringen. Für eine 131-km-Variante wurden weitere 200 Mio. DM veranschlagt. An jährlichen Betriebskosten wurden - je nach Netzlänge - 159 bis 200 Mio. DM erwartet. Ein anderes Verkehrskonzept ging davon aus, stillliegende Strecken erst nach umfassender Modernisierung im Zeitraum 1990 bis 2004 (!) wieder in Betrieb zu nehmen.

Der Reaktivierung der S-Bahn stand das Problem gegenüber, dass die Kassen Westberlin bereits nach der damaligen Einschätzung als leer galten. Also sollte die Bundesregierung Unterstützung leisten und die Betriebskosten übernehmen, die den Berliner Haushalt zunächst mit jährlich 77 Mio. DM belasten würden. In anderen Städten mit S-Bahnverkehren trug schließlich die Bundesbahn (und damit der Bundeshaushalt) deren Kosten und nicht die Städte. Nach schwierigen Verhandlungen sagte die Bundesregierung im Juni 1983 Betriebskostenzuschüsse zu, die den Betrieb von 40 km S-Bahn erlauben würden. Die Alliierten standen Veränderungen beim S-Bahnbetrieb anfangs ebenfalls ablehnend gegenüber, weil damit nach deren Auffassung Statusänderungen verbunden gewesen wären.

Wannsee

8. Januar 1984: Auch der letzte Reichsbahnzug aus Wannsee war mit einem Trauerflor geschmückt.

Beginn der Verhandlungen

Die eigentlichen Fachverhandlungen zwischen dem Berliner Senat und der Reichsbahn begannen am 31. Oktober 1983, nachdem die Alliierten Schutzmächte hierzu ihre grundsätzliche Zustimmung gegeben hatten und darauf folgende Sondierungsgespräche zwischen der Bundesregierung und der DDR-Regierung abgeschlossen wurden.

Charlottenburg

9. Januar 1984: Der erste BVG-Zug in Charlottenburg war von Fotografen umlagert.

Die Ausgangspositionen beider Verhandlungsdelegationen konnten unterschiedlicher kaum sein. Die Reichsbahn beanspruchte eine Ausgleichszahlung für das Defizit des letzten Jahres, nachdem sie sich von einer Forderung von rund 1,5 Mrd. DM für die Verluste der letzten zehn Jahre schon verabschiedet hatte. Außerdem wollte sie 850 Westberliner S-Bahnmitarbeiter abgeben. Lange Zeit sprachen sich die östlichen Vertreter auch gegen den Einsatz durchgehender Züge in Richtung Friedrichstraße aus. Man bestand auf einem Pendelverkehr Lehrter Stadtbahnhof - Friedrichstraße und vertrat ernsthaft die Auffassung, das geforderte Umsteigen in Lehrter Stadtbahnhof würde ein im Eisenbahnbetrieb üblicher Vorgang sein. Nach knapp achtwöchigen Verhandlungen siegte die Vernunft: Die Reichsbahn erhielt statt eines millionenschweren Defizitausgleichs jährlich ca. sieben Mio. DM für zu erbringende Leistungen, übergab nur 672 statt 850 Mitarbeiter und die vom "Senat zu bestimmende Stelle" (die in der Vereinbarung so umschriebene BVG) erhielt nur 119 statt der anfangs geforderten rund 200 Viertelzüge. Erste Begutachtungen der Betriebsanlagen durch Fachleute der BVG begannen Mitte November 1983, konkrete Einweisungen in den Betrieb fanden Anfang Januar 1984 statt.

Lichtenrade

9. Januar 1984: Zur S-Bahn-Übernahme spielte das BVG-Orchester im Bahnhof Lichtenrade.

Kurze Einarbeitung der BVG

Sowohl die Dauer der Verhandlungen als auch die schon erwähnte Zeit für die Einarbeitung der BVG wurde von der Öffentlichkeit seinerzeit als sensationell kurz empfunden. Dabei wurden allerdings viele begünstigende Faktoren außer Acht gelassen: Ein Verhandlungsteilnehmer bestätigt, dass die Reichsbahn ein immenses Interesse hatte, die S-Bahn endlich loszuwerden. Seit den 70er Jahren hatte es zu verschiedenen anderen Verkehrsthemen zweiseitige Verhandlungen gegeben. Daher waren die Verhandler am Tisch erfahren und kannten einander gut. Außerdem hatte die BVG seit 1981 vielfältige Zuarbeit für diverse Senatsuntersuchungen zur S-Bahn geleistet. BVG-Fachleute hatten sich schon lange - von der Öffentlichkeit und einem erweiterten Mitarbeiterkreis im eigenen Betrieb unbemerkt - in die Materie eingearbeitet.

Frohnau

Etwa vier Wochen vor seiner Wiedereröffnung war der Bahnhof Frohnau noch eine Baustelle.

Das Bw Nordbahnhof wird geschlossen

Mit der Abgabe des S-Bahnbetriebs an die BVG endete auch die Existenz des S-Bahnbetriebswerks Nordbahnhof im Ostberliner Bezirk Mitte. Bis dahin wurden hier Züge gewartet und Triebfahrzeugführer eingesetzt. Am 8. Januar 1984 endete der Zugbetrieb gegen 21 Uhr. Danach mussten alle eingesetzten Züge nach Wannsee bzw. zum Anhalter Bahnhof in Kreuzberg, um dort an die schon bereitstehenden BVGer übergeben zu werden. Ein Reichsbahner sollte seinen letzten Zug gegen 22 Uhr an die BVG übergeben. Er wusste, dass schon Betriebsschluss sein würde und es keine Möglichkeit mehr gibt, mit der S-Bahn nach Friedrichstraße zu kommen. Deshalb hatte er mit den Grenzern in Absprache mit der Oberdispatcherleitung verabredet, dass er zum Bahnhof Friedrichstraße zu Fuß durch den Tunnel laufen müsste.

Der wirklich letzte Zug des Betriebswerkes Nordbahnhof wurde weit nach Mitternacht im Anhalter Bahnhof an die BVG übergeben. Nachdem der Reichsbahn-Triebfahrzeugführer einen letzten Rundgang durch den Bahnhof gemacht hatte, wurde er im Auto der Fahrleitungsmeisterei nach Ost-Berlin gefahren.

Passviertelzugeinsatz

Wegen Fahrzeugmangel aufgrund des Winterwetters musste die BVG im Februar 1985 auch Passviertelzüge im Zweimannbetrieb einsetzen.

Der Start

Am 9. Januar 1984, war es soweit: Um vier Uhr in der Früh verließ der erste S-Bahnzug der BVG den Bahnhof Charlottenburg in Richtung Friedrichstraße. Damit verbunden war allerdings auch die Stilllegung weiterer bis zuletzt durch die Reichsbahn noch betriebener Streckenabschnitte. Die BVG argumentierte, dass bei der angespannten Personallage mehr Betrieb nicht möglich sei. Trotz Übernahme von 672 Mitarbeitern fehlten Fachleute wie Triebfahrzeugführer und Fahrdienstleiter. In den ersten Monaten kam die BVG nur über die Runden, indem auch Verstöße gegen die Arbeitszeitvorschriften hingenommen wurden. Personalmehrbedarf für Streckenverlängerungen zum 1. Mai 1984 und 1. Februar 1985 wurde unter anderem durch freiwillige Abordnung von jeweils 20 Triebfahrzeugführern der Hamburger S-Bahn gedeckt.

Bauarbeiten in Steglitz

Vor der Wiederöffnung der Wannseebahn wurden auch Brücken saniert, wie hier am Bahnhof Steglitz.

Mit der Wiederinbetriebnahme der Wannseebahn (Anhalter Bf. - Wannsee) am 1. Februar 1985 war das Einstiegsnetz der BVG-S-Bahn mit einer Streckenlänge von genau 71,49 km komplett.


Tabelle über die Einstellungen und Inbetriebnahmen der Westberliner BVG


Autor:
Manuel Jacob
Für weitere Informationen zum Thema erschien beim Verlag Bernd Neddermeyer ein Buch des Autors:
Der elektrische Betrieb auf der Berliner S-Bahn (Band 6); Manuel Jacob; Verlag Neddermeyer; 2004

letzte Änderung:
5. Januar 2009

Veröffentlichung:
26. Oktober 2008

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