Das Viertelzugkonzept und die Zugbildung


In den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts "elektrisierte" die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft (DRG) ihr Streckennetz der Berliner Stadt-, Ring- und Vorortstrecken. Bei den Versuchszügen A bis E war die kleinste betriebsfähige Einheit der Halbzug. Er bestand aus zwei Triebwagen und drei dazwischen gekuppelten Beiwagen. Aufgrund der Erfahrungen, die die DRG aus diesem Probebetrieb gewann, entschied sie sich, als kleinste betriebsfähige Einheit den Viertelzug zu wählen. Zwei dieser Viertelzüge bilden einen Halbzug, drei ein Dreiviertel- und vier den Vollzug - auch heute noch.

Ein Viertelzug besteht aus zwei Wagen, die immer zusammen laufen müssen, da sie technisch eine Einheit bilden - egal von welcher Baureihe sie stammen. Man unterscheidet in:

Eine abweichende Ausstattung haben die BR 480 und 481 - auf diese soll jedoch an dieser Stelle hier nicht eingegangen werden.

Die nachfolgende Gegenüberstellung der Zugbildungen ist unmaßstäblich. Die angeführten Längenangaben stellen nur Richtwerte dar, da aufgrund der - bis heute eingesetzten - unterschiedlichen Bauarten und -reihen die einzelnen Fahrzeuglängen variieren.


Bild: Versuchszug

Schematische Zugbildung bei den Versuchszügen A bis F - Vollzug ca. 135 Meter.
Beim Versuchszug F ist die Anordnung der Jakobsdrehgestelle dargestellt.


Bild: BR 169

Zugbildung bei der BR 169.

Bild: Viertelzug

Viertelzug - auch Zweiwagenzug oder "Stube und Küche" genannt - ca. 34 Meter

Bild: Halbzug

Halbzug - ca. 68 Meter

Bild: Dreiviertelzug

Dreiviertelzug - ca. 102 Meter

Bild: Vollzug

Vollzug - ca. 136 Meter


Bald darauf zeigten sich die ersten Schwächen des Konzeptes: jeder zu fahrende Zug mußte 2.- und 3.-Klasse-Wagen sowie Raucher- und Nichtraucherabteile aufweisen - und das möglichst in einer einheitlichen Zugbildung. Die sich daraus ergebenden Zwänge führten das Konzept eines freizügigen Fahrzeugeinsatzes ad absurdum.
Schnell stellte sich heraus, daß die S-Bahn so erfolgreich war, daß man kaum Steuerviertelzüge benötigte. Deshalb beschloß die DRG, keine Steuerviertelzüge mehr bei der Industrie zu bestellen (ab 1929 wurden nur noch Beiwagen gebaut). Bereits Anfang der 30er Jahre entnahm die Reichsbahn aus den Führerständen der Steuerwagen Bauelemente zur Ersatzteilgewinnung. Anläßlich der Modernisierung von 50 Viertelzügen der Bauart Oranienburg entfielen bei ihr alle Steuerwagenführerstände. Bei der Bauart Stadtbahn geschah dies von etwa 1942 an bis zum Kriegsende. Im Mai 1945 verfügte die Berliner S-Bahn über keine Steuerviertelzüge mehr.
Bei der 1940 eröffneten Gleichstrom-S-Bahn in Hamburg setzte die Deutsche Reichsbahn (seit 1938 DRB) von Anfang an auf ein neues Konzept mit Drei-Wagen-Einheiten (Halbzug, Vollzug, Langzug).

Zurück nach Berlin und zu zwei Nachteilen von Steuerviertelzügen:


Der Einsatz der Zwei-Wagen-Züge ab 1945

Erstmals setzte die DR einzelne Viertelzüge nach der vollständigen Wiederinbetriebnahme der Friedhofsbahn am 27. Mai 1948 ein. Für den Fahrzeugeinsatz baute das Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) Schöneweide in drei Beiwagen (alles ehemalige Steuerwagen) wieder die Steuereinrichtungen ein.


bei Indienststellung ab 1930 ab 1941 ab 1970 ab 1992 Indienststellung Umbau in EB Umbau in ES Bemerkungen
2303 3225 ET 165 155 275 659 488 165 28.1.1929 - - [1], [2]
5447 5296 ES 165 155 275 660 888 602 28.1.1929 13.3.1945 29.8.1955 [1], [2]
2381 3303 ET 165 231 275 693 488 166 12.9.1928 - - [1], [2]
5275 5142 ES 165 231 275 694 888 603 12.9.1928 6.5.1944 31.3.1947 [1], [2]
2514 3436 ET 165 358 275 747 488 167 13.9.1928 - - [3], [4], [5]
5504 5353 ES 165 358 275 748 888 604 13.9.1928 26.7.1944 26.3.1947 [3], [4], [5]

Tabelle 1: Umbau von Bei- in Steuerwagen
[1] heute im Bestand der S-Bahn Berlin GmbH, betreut vom Verein Historische S-Bahn e.V.
[2] Ende der 1970er Jahre nach Ostberlin umbeheimatet
[3] heute im Bestand des Deutschen Technik Museum Berlin
[4] Viertelzug ging am 9. Januar 1984 in den Bestand der BVG über
[5] diese Nummer war ab 1997 wieder vergeben, 475 126 wurde in 488 167(II) umgezeichnet

Alle drei Wagenzüge verblieben jahrelang im Fahrzeugbestand des S-Bahnbetriebswerk Wannsee. Drei weitere Viertelzüge, die für den Betrieb in Westberlin vorgesehen waren, baute das RAW in den Jahren 1981/82 um.


Viertelzugnummer Indienststellung Umbau in EB Umbau in ES Bemerkungen
275 319/320 25.4.1929 14.4.1945 30.1.1982 [1]
275 353/324 2.11.1928 29.4.1944 30.11.1981 [1], [2], [3]
275 513/514 6.4.1929 2.6.1944 30.12.1981 [1]

Tabelle 2: Umbau von Viertelzügen der Bauart 1928/29 für den Einmannbetrieb in Westberlin
[1] alle drei Viertelzüge verblieben nach dem 9. Januar 1984 bei der BVG in Westberlin
[2] bei Umbau in Steuerwagen in 275 354 (II) umbezeichnet
[3] 275 324 Indienststellung am 25.5.1928

Bild: Peenemünder Beusselstraße

Sommer 1980: wenige Wochen vor dem zweiten Reichsbahnerstreik verläßt dieser Peenemünder die Kehranlage Beusselstraße.

In Ostberlin gestaltete sich der Einsatz anders: Bei Kriegsende 1945 befanden sich ein Viertelzug und zwei einzelne Triebwagen der Bauart 1942 (besser bekannt als Peenemünder) noch auf dem Gelände des RAW Schöneweide, sieben weitere Viertelzüge kamen 1952 aus der damaligen Sowjetunion zurück. Mit diesen Wagen verfuhr die DR wie folgt:

Diese Peenemünder Viertelzüge verblieben weiterhin in Ostberlin, es sind keine regelmäßigen Einsätze einzelner Fahrzeuge überliefert. Erst in den 1960er Jahren verkehrte ein Viertelzug auf dem damaligen Inselbetrieb Hennigsdorf - Velten. Ausgerechnet ein Peenemünder fuhr als Umlauf V 2 (Funkbezeichnung "Viktor") ab dem 12. April 1966 in den Zeiten des Berufsverkehres zwischen Hennigsdorf und Hennigsdorf Nord. Dieser besondere Fahrzeugeinsatz endete am 28. September 1969.

Bild: Fahrplan 1

Bild: Fahrplan 2

Auszug aus dem Taschenfahrplan Sommer 1967 der Rbd Berlin. Sammlung: Matthias Arndt.

Unterschiedliche Einsätze in Ostberlin...

Der wohl bekannteste Einsatz eines Zweiwagenzuges ist der Mini-Otto. Nach dessem Einsatzende am 31. Mai 1986 kam es danach nur noch zu wenigen Einsätzen von einzeln verkehrenden Viertelzügen, meist in den Nachtstunden und/oder an Wochenenden sowie bei Bauarbeiten. Der bekannteste Umlauf (für innerbetriebliche Zwecke) war natürlich die Bulettensusi.

… und in Westberlin

In Westberlin hingegen war auf dem verbliebenen Stummel der Stammbahn in der Zuggruppe 5 vom Sommerfahrplan 1964 bis zur Betriebseinstellung im September 1980 regelmäßig ein einzelner Viertelzug unterwegs, meist 275 747/8.

Bild: Zehlendorf Süd 1979

Haltepunkt Zehlendorf Süd im Jahre 1979: Der ES 275 748 fuhr größtenteils immer in Richtung Düppel, der ET 275 747 in Richtung Zehlendorf.
Der Paßviertelzug wurde im Jahre 1984 zeitweilig an das Verkehrsmuseum Nürnberg abgegeben.

Die DR setzte im Jahre 1968 drei Viertelzüge der Bauart Peenemünde von Ostberlin zum Westberliner S-Bw Wannsee um. Dort kamen die drei Steuerviertelzüge, neben den drei vorhandenen (siehe Tabelle 1), vorerst am Wochenende auf der Zuggruppe Berta (Jungfernheide - Gartenfeld) zum Einsatz. Später gab es auch Einsätze auf der Zuggruppe Nordpol (Beusselstraße - Spandau West). Nach und nach wurden diese ersten drei Viertelzüge durch andere Peenemünder ersetzt. Den interessantesten Lebenlauf bietet 276 069/70 (ex ET/ES 166 056): insgesamt wurde er in einem Zeitraum von 14 Jahren sechsmal neu beheimatet.

Nach dem Reichsbahnerstreik vom September 1980 fuhren die beiden in Westberlin verbliebenen Peenemünder bis zu ihrem Abzug nach Ostberlin im Januar 1983 im Abendverkehr als Zuggruppe Saale zwischen Friedrichstraße und Charlottenburg, meist in den Umläufen 3 und 4.


  umgesetzt von im zum umgesetzt im nach
ET/ES 166 060 Twh Velten August 1968 S-Bw Wannsee Februar 1977 S-Bw Grünau
ET/ES 166 055 Twh Velten Oktober 1968 S-Bw Wannsee Juli 1979 RAW Schöneweide [1]
ET/ES 166 054 Twh Velten September 1968 S-Bw Wannsee September 1978 RAW Schöneweide [2]
ET/ES 166 056 Twh Velten September 1969 S-Bw Wannsee Oktober 1973 S-Bw Grünau
276 073/4 (ex ET/ES 166 058) S-Bw Grünau September 1972 S-Bw Wannsee Oktober 1978 RAW Schöneweide [3]
276 069/0 (ex ET/ES 166 056) S-Bw Grünau April 1974 S-Bw Wannsee Februar 1977 S-Bw Grünau
276 075/6 (ex ET/ES 166 059) S-Bw Grünau Oktober 1978 S-Bw Wannsee Januar 1983 S-Bw Friedrichsfelde
276 069/0 (ex ET/ES 166 056) S-Bw Grünau Juli 1979 S-Bw Wannsee Januar 1983 S-Bw Friedrichsfelde [4]

Tabelle 3: Umgesetzte Viertelzüge der Bauart "Peenemünde"
Twh: Triebwagenhalle
S-Bw: S-Bahnbetriebswerk
[1] wegen Umbau in 277mod, ab Oktober 1979 als 277 409/0 im S-Bw Grünau stationiert
[2] wegen Umbau in 277mod, ab Dezember 1978 als 277 407/8 im S-Bw Grünau stationiert
[3] wegen Umbau in 277mod, ab Januar 1979 als 277 415/6 im S-Bw Grünau stationiert
[4] Einsatz im S-Bw Friedrichsfelde erfolgte als "Buletten-Susi", da das Fahrzeug wegen Drehgestellmangels nicht in die BR 277mod umgebaut wurde

Nach der Übertragung der Betriebsrechte an die BVG am 9. Januar 1984 verblieben in deren Bestand ganze drei Steuerwagenviertelzüge der BR 275 (siehe Tabelle 2) sowie der Paß-Steuerviertelzug 275 747/748. Um flexibel auf die (neuen) Verkehrsströme reagieren zu können, wurden bei der Waggon-Union in Berlin-Borsigwalde ab dem 9. Februar 1984 einzelne Bei- in Steuerwagen umgerüstet. Die BVG setzte die einzeln fahrenden Viertelzüge, nachdem ausreichend Wagen hergerichtet waren, ab dem Jahre 1988 im Abendverkehr auf der S-Bahnlinie 1 ein. Zudem verfolgte sie in ihrem weiteren Betriebskonzept den Einsatz von einzeln verkehrenden Viertelzügen - so wurde die Baureihe 480 von Anfang an mit zwei Führerständen konzipiert und gebaut. Mit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 und den damit anschwellenden Verkehrsströmen wurden jedoch solche Einsätze überflüssig; zwei Wagen reichten mit ihrer Platzkapazität einfach nicht mehr aus. Nur in den sogenannten Nebenverkehrszeiten verkehrten und verkehren bis heute diese Zweiwagenzüge.

Bild: Oberspree BR480

Wegen Bauarbeiten auf der Ringbahn verkehrte 480 036/536 als Zweiwagenzug am 14. November 2004 zwischen Schöneweide und Spindlersfeld.

Der bekannteste Einsatz findet zur Zeit auf der Ostbahn statt: von Mai 1998 bis März 2001 sowie von Juni 2002 bis zum 13. September 2003 verkehrten im Abendverkehr von Mahlsdorf aus Steuerviertelzüge der BR 477.6/877.6 nach Strausberg bzw. Strausberg Nord. Seit dem 13. September 2003 fahren hier einzelne Viertelzüge der BR 480. Die hier verkehrenden Züge wurden und werden aufgrund ihrer Funkbezeichnung "Erna" gerne auch mal als "Klein-Erna" bezeichnet, jedoch konnte sich dieser Spitzname - analog dem "Mini-Otto" - bislang nicht durchsetzen.


Autor:
Mike Straschewski

Danksagung:
Der Autor bedankt sich für ihre Zuarbeiten und Korrekturen bei: Matthias Arndt, Markus Jurziczek, Peter Bley, Jens Wirgenings und Mathias Hiller.

Quellen und weiterführende Buchtipps:
Abschied vom Mini-Otto; Hans-Joachim Hütter; Verkehrsgeschichtliche Blätter, Heft 6/1986
Die S-Bahn-Strecke Velten - Hennigsdorf; Verkehrsgeschichtliche Blätter, Heft 6/1983
Kursbuch der Deutschen Reichsbahn, Sommerfahrplan 1967, Rbd Berlin, Sammlung Arndt
Der elektrische Betrieb auf der Berliner S-Bahn (Band 6); Manuel Jacob; Verlag Neddermeyer; 2004
Züge der Berliner S-Bahn - Die eleganten Rundköpfe; Schmiedeke/Müller/Hiller; Verlag GVE; 2003

Tabellen 1 und 2 (leicht geändert) entnommen aus: Abschied vom Mini-Otto; Hans-Joachim Hütter; Verkehrsgeschichtliche Blätter, Heft 6/1986

letzte Änderung:
3. Dezember 2008

Veröffentlichung:
26. Oktober 2008

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