Der Reichsbahnerstreik von 1980

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Zu den Besonderheiten der Berliner S-Bahn zählte vor garnicht allzulanger Zeit, das der "sozialistische Verkehrsbetrieb" Deutsche Reichsbahn im "kapitalistischen Westberlin" das dortige S-Bahnnetz betrieb. Zurückzuführen ist dieses jahrzehntelange Kuriosum (und auch Ärgernis) auf die Vereinbarungen der alliierten Siegermächte. Schon im September 1944 beschlossen die Sowjetunion, Großbritannien und die USA im 1. EAC-Zonenprotokoll die Aufteilung Deutschlands (in den Grenzen vom 31.12.1937) in mehrere Besatzungszonen sowie von Groß-Berlin in den Stadtgrenzen vom 27. April 1920. In weiteren Sitzungen (2. EAC-Zonenprotokoll vom 14.11.1944 und 3. EAC-Zonenprotokoll vom 26.7.1945) wurde diese Aufteilung spezifiziert. Für das Gebiet von Groß-Berlin legte man eine gemeinsame Besatzungshoheit fest.

Nach der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde am Abend des 8. Mai 1945 waren die sowjetischen Truppen bis zum Einzug der Amerikaner und Briten Anfang Juli die alleinige Besatzungsmacht. Sie regelte und organisierte bis dahin das Leben in der kriegszerstörten ehemaligen Reichshauptstadt. Nach ihrem Eintreffen akzeptierten Großbritannien, die USA und später auch Frankreich die bis dahin durch die Sowjetunion getroffenen Regeln und Entscheidungen. Das Berliner Eisenbahnnetz und dessen Betriebsführung sahen die Alliierten aus Gründen der Zweckmäßigkeit als Einheit an, was in den nachfolgenden Jahren auch immer bestätigt wurde. Da man der Ansicht war, das detailliertere Regelungen das Funktionieren des Berliner Eisenbahnnetzes eher verkomplizieren würden, unterließ man in all den Jahren diesbezüglich jegliche schriftliche Vereinbarung. Zwar regelte die Proklamation Nr.2 des Alliierten Kontrollrates vom 20.9.1945 die Übertragung des Hoheitrechtes über das Eisenbahnwesen der jeweiligen Besatzungsmacht, für Berlin war diesbezüglich jedoch keine besondere Vereinbarung festgehalten worden.

Bild: Zug im Bahnhof Heerstraße

In den S-Bahnhof Heerstraße fährt ein Zug der Baureihe 167 nach Westkreuz ein. Wegen der Kriegsfolgen verkehrt der Zug auf dem Streckengleis Westkreuz - Spandau. Am Wagen sind noch die im Krieg angebrachten seitlichen Fangbügel sowie der Tarnscheinwerfer unter dem Mittelfenster angebracht, die Abblendungen der Frontlampen jedoch entfernt. Noch ist die S-Bahn ein wichtiges Bindeglied der Stadt, in den nächsten Jahren wird sie sich jedoch zum Zankapfel entwickeln (Oktober 1945).
© Deutsche Fotothek, Fotograf: Abraham Pisarek, Bilddatei: Fotothek_df_pk_0000145_020.jpg

So entstand ein Zustand, der sich in den nachfolgenden Jahren immer weiter manifestierte und spätestens ab 1948 für Irritationen, Konflikte und schwerwiegende Rechtsprobleme sorgte. Schon im Mai 1949 kam es dadurch zum ersten Streik der Reichsbahner. Die DDR konnte und wollte die Reichsbahn nicht aus der Hand geben, hatte man doch so immer einen Fuß in Westberlin. Ein jahrzehntelanges Hickhack begann ...

"Kellerkinder der Westberliner Lohnskala, doch immerhin: fast schon Helden."

Nach dem Bau der Berliner Mauer und dem in den nachfolgenden Tagen einsetzenden S-Bahnboykott verloren die rotgelben Züge bis zu 80% ihrer Fahrgäste. Da man den Betrieb vorerst weiterhin vollumfänglich aufrechterhielt, ergab sich bald darauf ein immer größer werdendes Defizit. Zwar passte die Deutsche Reichsbahn (DR) u.a. den S-Bahnbetrieb nach und nach an (z.B. Verkürzung der Voll- auf Halbzüge), trotzdem kam sie nicht mehr aus den roten Zahlen heraus. Das auflaufende Manko, hier liefen zum Schluß zwischen 120 und 140 Mio D-Mark*) auf, mußte die DDR aus eigener Tasche bezahlen. Und so bemühte sich in den nachfolgenden Jahren Ostberlin immer wieder, zumindest die S-Bahn in Westberlin an den Senat zu verkaufen bzw. zu verpachten. Dieser lehnte jedoch immer wieder ab. Dadurch herrschte ein stetiger Rationalisierungsdruck auf die Eisenbahner, wo man konnte, sparte man Arbeitsplätze ein. Denn jeder abgebaute Arbeitsplatz bedeutete die Einsparung von Valutamitteln. Ende der 1970er Jahre sah die Reichsbahn keine anderen Einsparmöglichkeiten mehr, außer der Entlassung von Mitarbeitern. Schon Anfang Dezember 1979 [1] lagen im Verkehrsministerium der DDR (MfV) die ersten Entlassungslisten parat. In diesen standen 78 Namen von Mitarbeitern der beiden Westberliner Reichsbahnausbesserungswerke (Raw) Tempelhof und Grunewald, als Kündigungstermin wurde der 15. Januar 1980 festgelegt. Zur Begründung schob man u. a. dem Senat aufgrund dessen Verweigerung einer Bezuschussung des S-Bahnverkehres die Schuld an den Kündigungen zu. Die vorgesehenen Entlassungen mußten im Einklang mit dem Gesetzbuch der DDR stehen, d. h. die Betriebsgewerkschaftsleitungen hätten den Kündigungen zustimmen müssen.

*) Bis heute ist nicht klar, ob man den erwirtschafteten Fehlbetrag in D-Mark oder Mark der DDR ausgewiesen hatte. Beides wäre jedoch möglich, war doch nach dem Selbstverständnis der DDR der Umtauschkurs zwischen beiden deutschen Staaten 1:1.

§ 57. Gewerkschaftliche Zustimmung.
(1) Jede vom Betrieb ausgesprochene fristgemäße Kündigung und fristlose Entlassung bedarf der vorherigen Zustimmung der zuständigen betrieblichen Gewerkschaftsleitung.
...
(3) Verweigert die zuständige betriebliche Gewerkschaftsleitung die Zustimmung, entscheidet auf Antrag des Betriebes die übergeordnete Gewerkschaftsleitung bzw. der übergeordnete Vorstand endgültig. [2]

Da jedoch von vornherein absehbar war, daß die Westberliner Gewerkschafter des DDR-Gewerkschaftsbundes FDGB nicht allen Kündigungen uneingeschränkt zustimmen würden, einigten sich das MfV und das Politbüro im Vorfeld auf die folgende Vorgehensweise:
Bei Widersprüchen gegen die Entlassung sollte wie vom DDR-Gesetzgeber vorgesehen der Einspruch bei der Bezirksgewerkschaftsleitung erneut vorgetragen werden. Da sich deren Sitz in Ostberlin befand, wurde ihre Zustimmung zu den Entlassungen zuvor per Schreiben angeordnet. Um jeglicher vorzeitiger Verlautbarung entgegen wirken zu können, wurden die Westberliner Dienststellen erst am Vortage der Entlassung, also am 14. Januar 1980, über die Kündigungen unterrichtet. Am nächsten Tag begannen die Entlassungsgespräche. [3]

Die von den Eisenbahnern eingelegten Einsprüche gegen ihre Kündigungen wurden wie angeordnet von der Bezirksgewerkschaftsleitung abgelehnt. Daraufhin beantragte ein Teil der betroffenen Eisenbahner bei der betriebseigenen Konfliktkommission die Aufhebung ihrer Kündigung; diese erklärte 30 Kündigungen als rechtswidrig. Das wiederum veranlaßte die Reichsbahndirektion, beim (Ostberliner) Stadtbezirksgericht Mitte Einspruch einzulegen. Das Gericht bestätigte alle Kündigungen, die Westberliner Eisenbahner standen somit endgültig auf der Straße - und niemand interessierte sich für ihr Schicksal … [4]

Bild: Kehranlage Beuuselstraße

Auch wenn die Widersprüche innerhalb der Reichsbahn immer mehr zutage treten - trotzdem ist man stolz, ein Eisenbahner zu sein.
Beide Zugziele sowie die Kehranlage Beusselstraße werden nach dem Streikende nicht mehr angefahren (Winter 1978/79).

Die Eisenbahner empfanden diese Maßnahme als Hohn, hatte sich die DR doch jahrelang damit gebrüstet, daß für sie als sozialistischer Betrieb Entlassungen nicht in Frage kommen würden. Zudem entließ die Reichsbahn ohne jede Rücksicht auf eine Sozialverträglichkeit quer durch alle Belegschaftsschichten, darunter eine Schwangere, alleinerziehende Mütter sowie kurz vor der Rente stehende Eisenbahner. [5] Das Vertrauensverhältnis zwischen Belegschaft und Unternehmen wurde dadurch irreparabel gestört. Bis September 1980 kündigten rund 700 weitere Mitarbeiter aus eigenem Antrieb. [6] Für die verbliebenen Eisenbahner verschärfte sich durch die massiven Personalabgänge die Arbeitssituation, mußten die nun unbesetzten Leistungen durch Überstunden abgefangen werden. Dadurch stieg die Arbeitsbelastung auf ein nicht mehr erträgliches Maß an. Im Schnitt arbeitete nun ein Reichsbahner zusätzlich 80 bis 100 Stunden; in Einzelfällen wurden sogar bis zu 160 Überstunden zusätzlich erbracht - pro Monat wohlgemerkt. [7] Zudem nahm die DR in den nachfolgenden Wochen und Monaten keine nennenswerten Einstellungen mehr vor.

Durch eine Indiskretion eines hohen Mitarbeiters der Rbd Berlin erfuhr die Westberliner Zeitung "Der Tagesspiegel" von neuen geplanten Einschränkungen im S-Bahnverkehr und berichtete am 2. April 1980 in einem ausführlichen Artikel über den neu angedachten Fahrplan. [8] Ausgangspunkt war die Fahrplanänderung (Fplä) 28, die ab 1. Juni 1980 in Kraft treten sollte. Diese Veröffentlichung löste heftigen Unmut innerhalb des Unternehmens aus, die Stimmung sank weiter, auch das Politbüro in Ostberlin zeigte sich darüber nicht erfreut. Die Reichsbahn setzte daraufhin den regulären Fahrplan ohne Streichungen am 1. Juni 1980 in Kraft. Hinter den Kulissen arbeitete sie weiterhin an einem eingeschränkten Verkehrsangebot, der durch die Fahrplanänderung 31 vom 26. August 1980 manifestiert werden sollte. Mit der Veröffentlichung wartete die DR vorsorglich bis in den September.

Der Streik bricht aus

Überstunden, die miese Stimmung innerhalb des Betriebes, eine geringe Lohnerhöhung sowie ein neuer Fahrplan brachten im September 1980 das berühmte Faß zum Überlaufen. Am 15. September 1980 kündigte die Reichsbahn mit der Fahrplanänderung 31 größere Einschränkungen für den neuen Winterfahrplan sowie die Stillegung von Güterbahnhöfen an. Nur vier Tage zuvor gab sie eine Lohnerhöhung von rund 65 DM bekannt. Burghard Ciesla schreibt dazu in [9]:

Beim MfV herrschte zu diesem Zeitpunkt die Ansicht vor, daß man die Entwicklungen unter Kontrolle hatte. Man glaubte, mit den Lohnerhöhungen vom 11. September genügend Vorsorge getroffen zu haben.

Warum brachte die Reichsbahner eine Fahrplanänderung so in Rage? Die DR sah mit Beginn des Winterfahrplanes 1980 vor, den Zugbetrieb auf einem Großteil der Westberliner S-Bahnstrecken zwischen 21 und 5 Uhr auszudünnen. Aufgrund der verlängerten Betriebsruhe und der dadurch nicht mehr verkehrenden Züge wollte die Reichsbahn nicht nur Unterhalts- und Stromkosten sparen, sondern auch die Lohn- und Nebenkosten für die entsprechenden Triebwagenpersonale. Die mit der Einschränkung vorangegangene angekündigte Lohnerhöhung wäre durch den früheren Betriebsschluß (u.a. wegen nun fehlender Zuschläge) völlig aufgezehrt worden. Interessant in diesem Zusammenhang: Ein Augenzeuge erinnert sich, daß während einer S-Bahnfahrt auf der Ringbahn Ende August 1980 die Fahrplanänderung 31 den einzelnen Dienstposten zugestellt wurde. Auf der Rückfahrt von Gesundbrunnen blickte ein Teil der Aufsichten betroffen drein. Trotzdem sollte es noch einmal fast zwei Wochen dauern, bis der Streik ausbrach.

Bild: Zug im S-Bahnhof Zoologischer Garten

Noch wenige Wochen vor dem Streik scheint alles in geordneten Bahnen zu laufen, doch unter dieser Decke gärt es (2. September 1980).

Wegen der im Frühjahr vorangegangenen Indiskretion und dem daraus entstandenen Schaden sorgte die DR diesmal vor: Sie druckte gleich zwei Kursbuchvarianten des neuen Winterfahrplanes 1980/81. Das eine Kursbuch beinhaltete den ganz normalen Fahrplan (fast identisch mit dem Sommerfahrplan 1980), das zweite enthielt die S-Bahnverkehrszeiten gemäß der Fahrplanänderung 31.


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