Die Trennung des S-Bahnnetzes durch den Mauerbau

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Berlin im Sommer 1961

Ich bin in den fünfziger Jahren im Westberliner Ortsteil Moabit aufgewachsen. Auf meinem Schulweg musste ich die Hansabrücke überqueren. Von da ab konnte ich den Viadukt der Stadtbahn sehen. Aus diesem Grund ist mir die S-Bahn von früher Kindheit wohl vertraut. Die U-Bahn spielte damals für mich noch keine Rolle, denn der erste Teilabschnitt der späteren Linie 9 vom Leopoldplatz bis Spichernstraße wurde erst im August 1961 eröffnet. Wenn wir also irgendwelche Wege hatten, die nicht mit Straßenbahn oder Bus erledigt werden konnten, nahmen wir natürlich die S-Bahn; insbesondere wenn wir nach Ostberlin wollten, zur Schulfreundin meiner Mutter. Dann ging´s vom Bahnhof Tiergarten zum Alexanderplatz und von dort mit der Straßenbahn 72 weiter bis zur Langhansstraße in Weißensee.

Im Sommer 1961 war ich acht Jahre alt und kannte in groben Zügen die politische Weltlage. Und so wusste ich auch, dass die S-Bahn vom Osten betrieben wurde, und dass man mit ihr reibungslos über die Grenze kam, was mit Straßenbahn und Bus nicht mehr möglich war. Und wenn man mit dem Auto fuhr, dann wurde man an der Grenze mehr oder weniger gründlich kontrolliert. Die S-Bahn war also für mich ein praktisches Beispiel, wie zusammengehörig die beiden Teile Berlins noch waren und wie perfekt das Zusammenleben immer noch funktionieren konnte.

Der Bau der Mauer war auch für mich ein großer Schock und natürlich habe ich den Sinn des S-Bahn-Boykotts verstanden und die rot-gelben Züge seitdem gemieden. Wie es den Ost-Berliner Machthabern gelingen konnte, dieses beispielhafte Verkehrssystem schlagartig zu zerteilen und nahezu reibungslos weiter betreiben zu können, darüber habe ich mir viele Jahre keine Gedanken gemacht. Man hörte auch nichts darüber, denn vor allem die Mitarbeiter der S-Bahn-Zentrale, die etwas darüber hätten erzählen können, wohnten nicht in Westberlin. Und in der DDR-Hauptstadt gab es zu diesem Thema nur polit-konforme Berichte. Deshalb dauerte es bis nach 1989, als die ersten Zeitzeugenberichte erschienen, die sich mit der Teilung der S-Bahn am 13. August 1961 befassen.

1990: Erste Berichte zur S-Bahntrennung tauchen auf

Von da an war nun auch mein Interesse geweckt. Allerdings waren diese Berichte eher geheimnisvoll. Triebfahrzeugführer berichteten, dass sie irgendwann nicht mehr weiterfahren konnten. Anrufe bei den zuständigen Stellwerken wurden gar nicht oder nur ausweichend beantwortet. Den Fahrdienstleitern ging es jedoch ähnlich. Arbeiteten sie in den grenznahen Stellwerken, dann bekamen sie Besuch von teilweise Unbekannten, die ihnen Briefe des Verkehrsministers in die Hand drückten. Diese enthielten den Befehl, den Verkehr mit Westberlin am 13. August um 1 Uhr einzustellen. Aus! Weisungen, über die künftige Betriebsführung? Fehlanzeige. Anfragen bei der nächst höheren Instanz, der Oberdispatcherleitung, blieben ebenso unbeantwortet. Fahrdienstleiter anderer Stellwerke wurden überhaupt erst durch ausbleibende Züge auf das Geschehen aufmerksam.

Jetzt begann ich, mich gezielt umzuhören. Ein Verkehrshistoriker gab mir Kopien von Fahrplananordnungen, die den neuen Verkehr auf der Ringbahn und den Nordsüd-Strecken regelten. Sie trugen das Datum vom 13. August 1961 und erschienen mir sehr detailliert ausgearbeitet. Daraus schlussfolgerte ich, dass die Reichsbahn einen derart massiven Eingriff in ihren Betrieb nicht aus dem Stand regeln konnte. Dazu hätte es guter Vorbereitung bedurft. Und die zentrale Leit- und Störungsstelle der S-Bahn, die Oberdispatcherleitung, kann auch nicht ahnungslos gewesen sein. Wie hätte sie sonst ihren Aufgaben nachkommen können? Andererseits war ich mir des unbedingten Geheimhaltungsinteresses der Staatsführung zu dieser Aktion wohl bewusst.

Die Planung der S-Bahn-Trennung: Phantasie und Wirklichkeit

Eine zeitlang hielt ich folgendes Szenario für denkbar. Der Vortag des Mauerbaus, also der 12. August, war ein Sonnabend, damals also noch Arbeitstag. Da in einem Staat wie der DDR Durchgriffe "von oben" einfacher waren als im Westen, hätte ich mir vorstellen können, dass man die erforderlichen Verwaltungsmitarbeiter kurzfristig unter einem Vorwand "dienstverpflichtet" und zu einer mehrstündigen Überstundenleistung heranzieht. Die Frage, wie man die Angehörigen vom Ausbleiben ihrer Lieben verständigt, habe ich mir zwar auch gestellt, aber nicht weiter verfolgt, denn es war ja nur ein Gedankenspiel. Nun hätte man für den Zeitraum des regulären Feierabends bis zur Bekanntgabe der Grenzschließung diese Mitarbeiter "wegschließen" müssen, damit keine Informationen nach außen dringen. Und in diesen zehn bis zwölf Stunden Vorlauf hätte diese Mannschaft mit den Vorbereitungen zur S-Bahn-Trennung beginnen können: Ein Verkehrs- und Betriebskonzept erstellen und Fahrpläne ausarbeiten.

In der Folgezeit habe ich dann noch die richtigen S-Bahner gesprochen, die an wichtigen Stellen die S-Bahn-Trennung miterlebt hatten. Aus deren Schilderungen sowie Dokumenten verschiedener Herkunft ist inzwischen klar geworden: Der Mauerbau wurde von einer ganz kleinen Gruppe hochrangiger Vertrauter von Ulbricht und Honecker geplant. Die Geheimhaltung war so groß, dass Notizen nur persönlich und handschriftlich anzufertigen waren. Die wichtigsten Grundlagen und Entscheidungen zur Eisenbahn hat Minister Kramer selber festgelegt. Dabei galt, dass nur das allernötigste vorab festgelegt und während der "Maßnahmen" nur informiert wurde, wer unmittelbar handeln musste. Deshalb war von der S-Bahn-Spitze niemand im Vorfeld informiert. Infolge der politischen Lage um Berlin lagen aber seit 1953/54 Pläne für den getrennten Betrieb in zwei Teilnetzen vor. Auf dieser Grundlage begann in den Morgenstunden des 13. August 1961 die Netztrennung, die relativ störungsfrei vollzogen wurde.

Die nachfolgenden Schilderungen sind dem Buch "Endstation Mauerbau - Wie das S-Bahnnetz am 13. August 1961 geteilt wurde" des Autors dieser Zeilen mit Genehmigung des VBN Verlag Bernd Neddermeyer entnommen und sollen verdeutlichen, wie das Geschehen tatsächlich war.


Die Grenzschließung: Bahnhof Friedrichstraße

Null Uhr: Einstellung des Zugverkehrs nach Westberlin

Der Bahnhof Friedrichstraße ist auf der Berliner Stadtbahn die Grenzstation im Ostsektor. Am westlichen Gleisvorfeld befindet sich das Stellwerk Friw, das den Zugverkehr mit Westberlin regelt. Am 12. August 1961, eine Viertelstunde vor Mitternacht, bereitet der Fahrdienstleiter den Dienst für den kommenden Tag vor, als sich von draußen Schritte nähern. Wenig später steht der Dienstvorsteher in Begleitung von Zivilisten, deren Identität noch unklar ist, im Stellwerksraum. Er übergibt dem Fahrdienstleiter einen verschlossenen Briefumschlag und weist ihn an, den Umschlag um genau null Uhr zu öffnen.

Um Mitternacht öffnet der Fahrdienstleiter den Umschlag und entnimmt ihm einen Befehl des Verkehrsministers, den S-Bahnverkehr nach Westberlin sofort einzustellen. Er ist schockiert und ratlos. Wie in jeder Nacht vom Sonnabend zu Sonntag gibt es fahrplanmäßig durchgehenden Nachtverkehr. Noch rollen die S-Bahnen teilweise im Fünf-Minuten-Abstand durch den Bahnhof. Nun zeigen die beiden Zivilisten ihre Ausweise und fordern den Eisenbahner zum Handeln auf.

Jetzt legt er das Ausfahrsignal auf Halt und sichert es gegen unbeabsichtigte Bedienung durch eine Sperre am Stellhebel. Zwei Züge haben am Bahnsteig C nach Westberlin Platz, dann kommt der Zugverkehr aus Richtung Ostbahnhof zum Erliegen. Eine direkte Rückfahrmöglichkeit gibt es mangels geeigneter Weichenverbindungen nicht. Entsprechende Umbauten hatte man seit Anfang August zwar vorbereitet, aber noch nicht vollzogen.

Bild: Westliche Gleisansicht Bf Friedrichstraße 1959

Die westliche Ansicht des Bahnhofes Friedrichstraße im Sommer 1959. Vorbei am Sv-Signal 47 erreicht der Zug gleich den S-Bahnsteig B.

Zur selben Zeit setzt sich eine S-Bahn im Bahnhof Ostkreuz in Bewegung. Der Zug hatte Erkner um 23.34 Uhr verlassen und soll sein Ziel Wannsee um 0.53 Uhr erreichen. Um 0.18 Uhr rollt er Friedrichstraße langsam entgegen, weil das Vorsignal Halt ankündigt. Am Einfahrsignal ist Schluss. Die Uhr zeigt jetzt genau 0.20 Uhr. Der Triebwagenführer erzählt: "Nach etwa 20 Minuten machte ich die Kollegen im Stellwerk durch einen Pfeifton auf uns aufmerksam. Vergeblich." Auch über das Streckentelefon gibt es nur ausweichende Antworten.

Da der Befehl des Ministers keine Weisungen zur Verkehrsregelung enthält, fragt der Fahrdienstleiter bei der zentralen S-Bahn-Stelle nach, die bei Störungen die übergreifenden Weisungen gibt: der Oberdispatcherleitung (Odl). Anfangs geht der Oberdispatcher nicht mal ans Telefon. Später antwortet er ausweichend, wird aber nicht konkret. Das ist für den zweiten Eisenbahner, der im Stellwerk als Dispatcherleitung West Dienst tut, ein Problem. Er ist das Bindeglied der Betriebsstellen auf der westlichen Stadtbahn zur Odl. Inzwischen sind auf den Bahnhöfen Zoo und Charlottenburg die ersten Züge aus dem Ostsektor überfällig und entsprechende Nachfragen der dortigen Fahrdienstleiter laufen ein. Nachdem der Dispatcher anfangs Ausweichendes sagt, weist ihn der Zivilist wenig später an, das Telefon gar nicht mehr abzunehmen. Mittlerweile sind im Stellwerk auch Transportpolizisten eingetroffen und die Zivilsten telefonieren eifrig.

Nach Ostberlin läuft der Zugverkehr zunächst weiter

Der Verkehr aus Westberlin ist anfangs nicht behindert; diese Züge fahren über den anderen Bahnsteig B planmäßig ein und weiter in Richtung Osten. Die in diesen Zügen sitzenden Menschen fahren unwissentlich gewissermaßen "in die Falle". So erging es jedenfalls dem ersten Todesopfer an der Mauer, Günter Litfin. Litfin war so genannter Grenzgänger mit Wohnsitz im Osten, dessen Arbeitsplatz sich jedoch in Westberlin befand. Er besaß bereits hier eine Wohnung, wo er nach deren Renovierung einziehen wollte. Am 12. August war er mit seinem Bruder mit deren Einrichtung beschäftigt und hatte sich nach Mittermacht mit der S-Bahn auf den Weg nach Ostberlin gemacht. Nun kam er legal nicht mehr zurück. Er entschloss sich daraufhin zur Flucht nach Westberlin. Bei seinem Versuch, am 24. August 1961 im Bereich des Eisenbahnviaduktes am Lehrter Stadtbahnhof durch die Spree zu schwimmen, wurde er durch gezielte Schüsse der Grenzwächter getroffen und versank in der Spree.

Die Geduld von Personal und Fahrgästen des Zuges aus Erkner wird auf eine harte Probe gestellt. Die ersten Passagiere klettern bereits eigenmächtig aus dem Zug und laufen in Richtung Bahnhof. Erst nach etwa einer Stunde zeigt das Einfahrsignal freie Fahrt an und der Zug rollt langsam in den Bahnhof Friedrichstraße. "Aber eine Zugzielanzeige Richtung Potsdam war nicht zu sehen. Dafür standen auf den benachbarten Fernbahngleisen Uniformierte mit aufgepflanzten Bajonetten", so erinnert sich der Triebwagenführer. Er erhielt dann die knappe Anweisung, den Zug umzusetzen und nach Erkner zurückzufahren. Die auflaufenden Züge, so berichten beteiligte Eisenbahner, hat man im Laufe der Nacht über die Weichenverbindungen westlich des Bahnhofs in Höhe des Stellwerks Friw und das Bahnsteiggleis 4 gekehrt. Hierzu war für jede einzelne Fahrt eine Zustimmung der "Bewacher" erforderlich.

Bild: Gleisplan vor und nach dem Bau der Berliner Mauer

Die Gleispläne des Bahnhofes Friedrichstraße vom Sommer 1958 (oben) und vom März 1962 (unten).
Der obere Plan zeigt, daß es bis zum Mauerbau vom Bahnsteig C aus keine Rückfahrmöglichkeit in Richtung Osten gab.

Irgendwann ist für die Westberliner Fahrdienstleiter klar, dass von Osten her keine S-Bahnen mehr kommen. Da sie von der zuständigen Dispatcherleitung West keine Auskünfte bekommen, kehren sie die aus Potsdam und Falkensee kommenden Züge eigenmächtig in Zoo und Charlottenburg, so jedenfalls erinnert sich ein beteiligter Mitarbeiter. Dieses Vorgehen entspricht jahrzehntelangen Grundsätzen, bei Streckenunterbrechungen einzelne Streckenteile nicht "leerlaufen" zu lassen. Damit ist der S-Bahnverkehr auf der Stadtbahn in beide Richtungen für über 28 Jahre unterbrochen.

So schnell wie sich der durchgehende Verkehr unterbrechen lässt, so kompliziert stellt sich jetzt das Kehren der Züge dar. Im Laufe des Sonntags finden am östlichen Bahnhofskopf dann auch noch Weichenbauarbeiten statt, um das Rangieren über die Westseite vermeiden zu können. Der Mitarbeiter der Dl West erinnert sich: "Bis zu meinem Schichtende um 10 Uhr vormittags habe ich keine Gleisbauarbeiten bemerkt. Wir haben die Züge über Friw gekehrt. Als abends um 22 Uhr die nächste Schicht begann, waren alle wichtigen Gleis- und Signalbauarbeiten erledigt, und man konnte vom Bahnsteig C in Richtung Osten fahren."

Dies führte tagsüber zu zeitweise chaotischen Zuständen, die sauber protokolliert sind. Der Stab im Präsidium der Volkspolizei (PdVP) in Ostberlin hat hunderte von großen und kleinsten Vorkommnissen entlang der Grenze aufgezeichnet. Danach befanden sich bereits zwischen vier und fünf Uhr früh Personengruppen auf dem Bahnsteig Richtung Westen und diskutierten über die Grenzschließung. Um 5.00 Uhr geht die Meldung ein, "dass der Zugverkehr vom Bhf. Friedrichstr. in Richtung Alexanderplatz nicht klar ist." Um 5.10 Uhr meldet die Transportpolizei von dort: "Auf den Bahnsteigen stehen Hunderte von Menschen, die nach WB wollen. Bisher keine Vorkommnisse." Dann schien es ruhiger zu werden. Meldung von 6.15 Uhr: "Information Trapo: Auf dem Bahnsteig Friedrichstr. in Richtung WB größere Ansammlung von Westberlinern, die nach WB fahren wollen. Nach Kenntnisnahme der eingeleiteten Maßnahmen zerstreuen sich die Personen u. verlassen den Bahnhof. - Auf den anderen S-Bahn-Übergangsbahnhöfen nach WB keine besonderen Vorkommnisse."


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