Der 9. November 1989 - Die S-Bahn läuft zur Höchstform auf

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Knapp zwei Jahrzehnte ist es nun schon wieder her, daß ein Ereignis das deutsche Volk veränderte.

Noch im Januar 1989 ließ sich der damalige SED-Chef Erich Honecker zu dem Spruch hinreißen: "Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben". Nun gut, Mathematik war wohl nicht des Dachdeckers Leistungsfach. Als die DDR am 13. August 1961 ihre Grenzen schloß, richtete man sich auf beiden Seiten auf einen Dauerzustand ein. Während die Mauer technisch aufgerüstet und ihre Perfidität verfeinert wurde, wuchs auch eine Mauer in den Köpfen der Menschen.

Nach jahrelangem politischen Katz- und Mausspiel, Passierschein- und Transitabkommen öffneten sich am 9. November 1989 die Grenzen nach Westen. Tönte Erich Honecker noch kurz vorher: "Den Sozialismus in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf." - so brachten Ochs und Esel, respektive die DDR-Bevölkerung, ihn schnell zu einer neuen Erkenntnis.

Knapp zwei Jahrzehnte sind mittlerweile vergangen, in denen sich zwei ungleiche Geschwister bemühten, zueinander zu finden. Ein Prozess, in dem alle Beteiligten noch das Geben und Nehmen in beide Richtungen lernen müssen. Ein Geschenk, mit dem sich beide Seiten heute noch sehr schwer tun.
Die Geschehnisse rund um den 9. November 1989 sind in vielfältigen Artikeln, Büchern und Fernsehsendungen beschrieben worden. Im nachfolgenden Text werden wir die ersten Tage der neuen Reisefreiheit aus Sicht der Berliner S-Bahn beleuchten. Wenn auch Sie eine Erinnerung oder Bilder aus jenen denkwürdigen Tagen im Zusammenhang mit der S-Bahn haben, würden wir uns über eine Kontaktaufnahme freuen.

Bild: einfahrender Zug von Friedrichstraße kommend

So sah es jahrelang vom Lehrter Stadtbahnhof in Richtung Friedrichstraße aus: Im Westteil Berlins verkehrten im Regelbetrieb nur Halbzüge.
Im Hintergrund rechts auf der Signalbrücke das Selbstblocksignal 53 (April 1981).

Chronologie der Ereignisse:

Sonnabend, 7. Oktober 1989:

In der DDR finden die üblichen Jubelfeiern zum 40.Geburtstag statt. In vielen Städten kommt es zu Protestveranstaltungen, die gewaltsam aufgelöst werden.

Mittwoch, 18. Oktober 1989

Erich Honecker tritt ab. An seine Stelle kommt Egon Krenz, der nicht von allen Teilen der Bevölkerung akzeptiert wird.

Sonnabend, 4. November 1989

Die größte Protestdemonstration in der Geschichte der DDR findet in Ostberlin statt. Knapp eine halbe Million Menschen beteiligen sich daran, der Verkehr kommt in der Stadtmitte fast vollständig zum Erliegen.

Dienstag, 7. November 1989

Die Regierung der DDR tritt ab.

Donnerstag, 9. November 1989

Die Mauer fällt schneller, als den Verantwortlichen lieb ist. Aufgrund des mittlerweile legendären Lapsus von Günter Schabowski beginnt die neue Reisefreiheit schon am gleichen Abend.

Die Deutsche Reichsbahn in Ostberlin sowie die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) als Betreiber der S-Bahn in Westberlin werden von den nun zu bewältigenden Fahrgastströmen vollkommen überrascht.
Auf der westlichen Stadtbahn finden in dieser Nacht Gleisstopfarbeiten zwischen den Bahnhöfen Tiergarten und Charlottenburg auf dem Streckengleis Friedrichstraße - Wannsee sowie Reinigungsarbeiten an den Viaduktschächten zwischen Bellevue und Lehrter Stadtbahnhof auf dem Streckengleis Wannsee - Friedrichstraße statt. Die Züge pendeln im sowieso abendlichen 20-Minuten Takt zwischen den Bahnhöfen Friedrichstraße - Bellevue mit dem üblichen Halbzug. Im Nordsüd-S-Bahntunnel finden ebenfalls Bauarbeiten mit Pendelverkehr zwischen dem Anhalter Bahnhof und Gesundbrunnen statt.

Bild: westliche Bahnhofsansicht 1984

Blick auf den westlichen Bahnhofskopf von Friedrichstraße im Jahre 1984.
Links die beiden Gleise 6 und 5 für die Züge Richtung Osten, rechts daneben in der großen Bahnhofshalle das (sichtbare) Gleis 4 für die S-Bahn in Richtung Westen.
Ganz links im Bild das Stellwerk "Friw", in diesem befand sich die bis in die 1990er Jahre hinein die Oberdispatcherleitung S-Bahn West der DR.

Während die beiden deutschen Staaten und die Welt erst nach und nach realisieren, welcher historische Moment sich hier anbahnt, stehen Zehntausende Berliner an den wenigen Grenzübergangstellen und wollen ihre neue Reisefreiheit auskosten. Aufgrund der Besonnenheit aller Beteiligten kommt es zu keinerlei nennenswerten Ausschreitungen und Gewalttätigkeiten.

Im Grenzgebiet Bornholmer Straße an der Strecke Pankow - Schönhauser Allee, das damals ohne Halt durchfahren werden musste, ziehen Fahrgäste gegen 22:35 Uhr bei Zug "Konrad 5" (Oranienburg - Flughafen Schönefeld) die Notbremse. Wahrscheinlich mehr aus Übermut, war doch ein Überwinden der Grenzanlagen an dieser Stelle mehr als unwahrscheinlich. [1]

Schließlich fallen im Verlauf des weiteren Abend die Grenzbäume, die Menschen strömen von Ost nach West - und auch umgekehrt.
Gegen 23:51 Uhr meldet sich die BVG bei der damaligen Oberdispatcherleitung S-Bahn West der DR und fordert einen durchgehenden Nachtverkehr auf den S-Bahnlinien S2 (Frohnau - Lichtenrade) und der S3 (Friedrichstraße - Wannsee) - der Bitte wird entsprochen. So verkehren in der Nacht die Züge im Nordsüd-S-Bahntunnel im 30-Minuten-Takt, auf der Stadtbahn im 20-Minuten-Takt.


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