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Dieter Müller, damals Triebfahrzeugführer, erinnert sich:
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 hatte ich Nachtdienst im Dienstplan 12. Der Dienst begann gegen 22:00 Uhr. Schon vor dem Dienst hörte ich in den Nachrichten, daß da etwas im Gange ist, mit Urlaub, Reiseerleichterungen und so. Gegen 21:45 Uhr traf ich auf dem Bahnhof Friedrichstraße ein und begab mich zur Dienstauftragsstelle. Vor der Grenzübergangstelle (GÜST) Friedrichstraße war schon ein größerer Menschenauflauf. Die Versammelten sprachen auf die Grenzer und Polizisten ein, dass sowieso alles vorbei sei. Diese jedoch drängten die Leute ab, damit die Grenzübergangstelle nicht gestürmt wurde. Ich drängelte mich durch, hielt meinen Ausweis hoch und konnte passieren.
Gleisplan Lehrter Stadtbahnhof - Friedrichstraße um 1976.
Gut erkennbar: der Grenzverlauf am östlichen Bahnsteigende von Lehrter Stadtbahnhof.
Ich löste dann ganz normal in Friedrichstraße ab und fuhr meinen Dienst. Das einzig besondere waren Bauarbeiten auf der westlichen Stadtbahn, so musste ich nur den Pendelzug Friedrichstraße - Bellevue vom Lehrter Stadtbahnhof umsetzen. Dieser eine Halbzug durfte auch nicht kaputtgehen, da ein Austausch aufgrund der Bauarbeiten sehr schwierig war.
An der GÜST Invalidenstraße versammelten sich immer mehr Menschen, die auch immer lauter wurden. Mit der Aufsicht Lehrter Stadtbahnhof rätselte ich, was da los war. Diese wollte dann nach dem nächsten Zug mal nach unten gehen und nachschauen, was da los war. Als er wieder zurückkam, sagte er: "Die Grenze ist auf, die rennen hier alle kreuz und quer." Die Entlastungsstraße, auf der normalerweise ein Parkverbot bestand, wurde nach und nach in zwei Spuren zugeparkt, so daß irgendwann nichts mehr ging, nur noch Fußgänger kamen durch. Mit der Aufsicht Lehrter Stadtbahnhof ging ich nach einer weiteren Zugpause hinunter zur Sandkrugbrücke (an der GÜST Invalidenstraße Anm.d.A.). Ein Zöllner und ein Grenzer befanden sich auf einem Grenzhäuschen, tranken Sekt und unten ihnen liefen die Menschen durch. Wir standen beide da, mit großen Augen und mussten wieder zurück, da der nächste Zug schon im Bahnhof wartete.
Gegen Mitternacht wurden die Bahnsteige und der Zug immer voller. Ich kam in Friedrichstraße mit meinem Halbzug an und der Bahnsteig war schwarz. Ich konnte zum Führerstandswechsel nicht mehr nach vorne durch und musste dann seitlich auf der bahnsteigabgewandten Seite des Zuges entlang laufen. Vorne angekommen, kam ich nicht in den Führerstand hinein. Also fragte ich die Fahrgäste: "Wollt ihr in den Westen?"
"Ja!"
"Dann müsst ihr mich aber erst rein lassen - sonst fährt hier nichts."
Man machte mir Platz und bot mir auch gleich noch an, aus den mitgebrachten Sektflaschen einen Schluck zu nehmen, was ich ablehnte. Ich also rein in den Führerstand, Tür zu und bei der Einfahrt in den Lehrter Stadtbahnhof - der Bahnsteig ist wieder schwarz. Der BVG-Kollege wollte rein, aber keiner wollte aussteigen. Also holte die Aufsicht einen Stuhl, stellte diesen unter das seitliche Führerstandsfenster und so kletterten wir raus und in den Führerstand rein.
Wir meldeten dann zur BVG, daß es chaotische Zustände sind. Aufgrund der Bauarbeiten war es jedoch nicht möglich, den Pendelverkehr aufzulösen. Die nächtliche Betriebspause fiel aus und wir fuhren die ganze Nacht mit dem Halbzug hin und her. Ich hatte zum Schluss keinen Hut mehr auf, keinen Knopf mehr an der Jacke, ich sah wie "Schlumpi" aus und war mit Sekt bespritzt von "Hacke bis Nacke".
Blick vom Gleis 6 in Richtung Westen.
Diese Aufnahme wurde im Geheimen aufgenommen, da es nicht im Interesse der DDR war, das Grenzanlagen abgelichtet wurden.
Und jedes Mal in Friedrichstraße:
"Wollt ihr in den Westen?"
"Ja!"
quot;Dann müsst ihr mich aber erst rein lassen - sonst fährt hier nichts."
Der Intershop-Laden auf dem Bahnsteig B in Friedrichstraße hat wahrscheinlich den Umsatz des Jahres gemacht, immer wenn ich einen der Verkäufer sah, fuhr dieser mit seiner Minikarre Sektkisten heran.
Irgendwann in der Nacht rief ich meine Dienststelle an, um einen zweiten Tf zum Umsetzen anzufordern. Die Mitarbeiter dort konnten sich vorstellen, was gerade abging, da sie Funk und Fernsehen laufen hatten. Man schickte mir dann auch einen zweiten Mann und jeder besetzte dann im Lehrter Stadtbahnhof einen Führerstand, so dass sich der Führerstandswechsel in Friedrichstraße erübrigte.
Der Stuhl im Lehrter Stadtbahnhof blieb dann auch gleich stehen, der BVG-Kollege verblieb dann auch irgendwann mit im Zug. So stieg er gleich im Lehrter Stadtbahnhof mit in den hinteren Führerstand ein, da es dort noch schön leer war.
Nach der Nacht war ich ganz schön fertig. Irgendwann war Dienstschluss und es stellte sich mir die Frage: Wie komme ich nach Hause? Von Friedrichstraße? Es war ja nicht möglich - Tausend Mann gehen die Treppen hoch und Du willst als einzigster nach dem Osten!
Die Grenzer ließen mich dann mit dem Fahrstuhl vom Bahnsteig B runter und ich stand dann auf der Straße. Aber von da kam ich nicht mehr auf dem Bahnsteig C. So musste ich zum S-Bahnhof Marx-Engels-Platz (heute Hackescher Markt) laufen und konnte dann erst von dort mit der S-Bahn weiterfahren.
Meine Frau lag zu diesem Zeitpunkt nach einer Operation im Krankenhaus. Ich besuchte sie gleich anschließend nach dieser Nacht und sie fragte mich erstaunt: "Wie siehst Du denn aus?" Ich antwortete: "Ich komme aus dem Westen, aus der Kampfzone." Ich musste ihr und den Schwestern und den anderen Patienten noch mal erzählen, was sie schon in der Nacht im Fernsehen sahen. Irgendwann kam ich dann nach Hause und konnte endlich schlafen."
Soweit die Erinnerungen von Dieter Müller.
Ein Zug der BVG hat gerade das Stellwerk "Friw" (Friedrichstraße West) und das sich auf der Signalbrücke befindliche Zwischensignal 47 (vom Lehrter Stadtbahnhof kommend) passiert. Hinter dem Grenzzaun befindet sich das Kehrgleis 7, welches nur im Notfall bzw. nur zeitweise nachts planmäßig benutzt wurde. Für die Benutzung dieses Gleises musste der zuständige Führungspunkt der Grenztruppen zustimmen.
Triebfahrzeugführer Henning Brendel erlebte diese Nacht aus einer anderen Perspektive:
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 hatte ich erst örtlichen Rangierdienst im S-Bw Friedrichsfelde und setzte von dort aus zum Früheinlauf einen Zug der Zuggruppe Emil ein. Beim Wagenmeister lief die ganze Nacht das Radio und da hörte ich auch, das man die Grenze nach Berlin-West (amtl. Sprachgebrauch) passieren konnte.
Früh setzte ich meinen Emil in Richtung Friedrichstraße ein. Ich kann mich daran noch gut erinnern, daß auf dem Bahnsteig C kurz nach 4 Uhr ungewöhnlich viele Menschen standen - zu ungewöhnlich für einen ganz normalen Wochentag. Es waren die heimkehrenden Ausflügler der Nacht, die eben mal kurz "drüben" waren ...
Beim Führerstandswechsel, als ich so am Zug entlang ging und mir meine Fahrgäste in den einzelnen Wagen betrachtete, fiel mir auf, daß viele Fahrgäste eine Westzeitung lasen. Für mich war es ein ungewohnter und unvergesslicher Anblick gewesen.
In der Nacht vom 10. zum 11.11.1989 hatte ich auch wieder Nachtdienst, in dieser Nacht fuhr ich den Nordpol 7 von Grünau nach Bernau über Schönhauser Allee und Pankow.
Mein Dienstregler W. Genß teilte mir beim Dienstbeginn mit, daß ein erweiterter operativer Nachtverkehr eingerichtet worden war. Meine Strecke führte von Schönhauser Allee nach Pankow (und zurück) unter der Bösebrücke durch. Auf dieser Brücke wurde die Grenze einen Tag vorher als erstes geöffnet.
In dieser Nacht aber standen Hunderte von Menschen auf der Brücke - und das die ganze Nacht hindurch! Ein unvergesslicher Anblick, den ich in dieser Nacht auf Grund des Nachtverkehrs mehrere Male durch die Frontscheibe meines Führerstandes erleben durfte.
Noch Tage vorher liefen immer nur ab und an nur mal vereinzelt Leute über diese Brücke ...
So schnell änderten sich die Zeiten.
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