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Andere S-Bahner wie Wolfgang Genß, damals Personaldisponent im S-Bw Friedrichsfelde, hatten am Nachmittag des 9. November Spätdienst. Er erinnert sich, daß gegen Abend mehrere Triebfahrzeugführer anriefen, die um frei baten, um ihre neu gewonnene Reisefreiheit auszukosten. Beim überwiegenden Teil musste er ablehnen, da sonst die Nachtdienste personell nicht mehr abgedeckt waren. Trotzdem erschienen einige Tf an diesem Abend nicht zum Dienst. So fielen in dieser historischen Nacht schon mehrere Züge aus, da die Spätdienste keine Ablösung bekamen. Diese angespannte Personalsituation zog sich dann noch über mehrere Tage hinweg.
Dr. Wolf-Ekkehart Matthaeus war 1989 Betriebsleiter bei der DR-S-Bahn. Die schon erwähnte Pressekonferenz von Schabowski und die Berichterstattung von den Ereignissen an den Grenzübergängen im Verlauf des späten Donnerstagabends machten ihm deutlich, was auf die S-Bahn zukommen würde. Er erinnert sich noch sehr gut an diese Nacht:
"Ich setzte mich zuhause hin und entwarf Konzepte, wie am bevorstehenden Wochenende der zu erwartende Ansturm auf die S-Bahn bewältigt werden könnte. Mir schwebte beispielsweise vor, den Bahnhof Oranienburger Straße sofort zu öffnen, weil er sich in einem leidlichen Bauzustand befand. Als erstes jedoch habe ich am nächsten Tag die geplanten Wochenend-Bauarbeiten abgesagt, was mir anfangs noch Ärger der betroffenen Stellen eintrug. Erste Vorbereitungen zu deren Ausführung waren ja schließlich getroffen worden." Freitag früh war Matthaeus beim Präsidenten der Reichsbahndirektion: "Ich ließ mir meine Vorhaben absegnen. Um sieben Uhr war die tägliche Lage beim Präsidenten. Ich wollte, dass er über die S-Bahn-Belange dann bereits informiert war." [2]
Alles entspannt am 1. März 1990: Menschen auf dem Weg zum "Tränenpalast".
Da bereits in der vergangenen Nacht viele Ostberliner in Westberlin verblieben, war der Frühberufsverkehr entspannter als üblich. Das kam der S-Bahn entgegen, weil eine große Signalstörung zwischen Nöldnerplatz und Ostkreuz von 5:40 Uhr bis 9:05 Uhr [3] den Zugverkehr aus den Neubaugebieten stark behinderte. Als gegen 8:42 Uhr im Streckengleis Springpfuhl - Biesdorfer Kreuz noch ein Schienenbruch [4] gemeldet wurde, mussten viele Züge ausfallen, was aufgrund der geschilderten entspannten Situation jedoch kein großes Problem darstellte.
Menschen über Menschen strömen in Richtung der Grenze. Die GÜST Friedrichstraße verkraftete den Massenansturm nicht mehr, so daß sich die DDR-Bürger bis auf den Bahnsteig C zurück stauten. Die Triebfahrzeugführer benutzten zum Führerstandswechsel teilweise den auf der bahnsteigabgewandten Seite vorhandenen Kabelkanal - ein Durchkommen auf dem Bahnsteig war so gut wie unmöglich. Die Transportpolizei der DR ging dazu über, am ersten Wagen in Richtung Marx-Engels-Platz (heute Hackescher Markt) die erste Tür und das Dienstabteil abzusperren. Das ermöglichte den Tf, den Führerstand zu betreten.
Trotzdem geriet der Fahrplan zeitweise komplett durcheinander. Die Oberdispatcherleitung der S-Bahn in Ost-Berlin musste etliche Züge streichen bzw. an vorgelegenen Bahnhöfen enden lassen. Die DR ging dazu über, schon auf den vorgelegenen Bahnhöfen den Fahrgästen zu empfehlen, dort auszusteigen und zu Fuß zur Grenze zu laufen.
Wie schon weiter oben geschrieben, zog die DR in Sachen Bauarbeiten die Notbremse: um 14:15 Uhr vermerkt das Dienstbuch der Oberdispatcherleitung Ost, das die beiden Betren 81004 und 81105 sowie die Fahrplananordnung (Fplo) 908 und 908/1 auf Ausfall gesetzt wurden. Um 15:50 Uhr wies der Vizepräsident der S-Bahn für die kommende Nacht keine Betriebspause an.
Auch bei der BVG im Westteil der Stadt war das Gedränge groß. In einer Fahrplananordnung wies man an, daß auf der S3 zwischen Wannsee und Friedrichstraße von 6:00 Uhr bis Betriebsschluß ein 10-Minutentakt durchgeführt wird. Die S-Bahn-West stieß jedoch schnell an ihre Kapazitätsgrenze, personell und wagentechnisch. So wurde noch am gleichen Tag mit der DR vereinbart, daß diese der BVG mehrere Wagenzüge zur Verfügung stellt, um von denen bis dato üblichen Halbzügen auf Dreiviertel- bzw. Vollzüge zu verstärken. Diese DR-Wagen mussten jedoch aufgrund ihres nicht kompatiblen Funksystems sowie fehlender Zugziele im Schilderkasten in die Mitte eingestellt werden.
Blick vom Gleis 6 in Richtung Westen.
Die Überführung der ersten beiden Vollzüge erfolgte noch am Abend des 10. November. Das S-Bw Grünau stellte die Viertelzüge 275 611/612, 663/664 ,721/722 und 951/952, das S-Bw Friedrichsfelde die Viertelzüge 275 327/328, 453/454, 461/462 und 687/688. Nachdem das Fernbahngleis 2 am Bahnsteig A, welches wie alle Bahnsteiggleise des Bahnhofes Friedrichstraße über eine Stromschiene verfügte, stromtechnisch zugeschaltet wurde, verkehrten Lp (Leerpark) 3414 ab Friedrichstraße 20:53 Uhr und Lp 3418 ab Friedrichstraße 21:06 Uhr. Die Züge wurden bis zum Lehrter Stadtbahnhof überführt, wo sie BVG-Triebfahrzeugführer übernahmen.
Der Besucherandrang von Ost nach West hielt unvermindert an. Die schon erwähnten Bauarbeiten auf der westlichen Stadtbahn sowie die nächtliche Betriebspause wurden auch für diese Nacht abgesagt. Während die S2 (Frohnau - Lichtenrade) im 20-Minutentakt im Nachtverkehr fuhr, wurde auf der S3 (Friedrichstraße - Wannsee) im 10-Minuten-Takt mit Dreiviertelzügen gefahren.
Tagsüber wurden noch drei zusätzliche Halbzüge zur Verstärkung eingesetzt. Diese fuhren in einem 10-Minutentakt zwischen Charlottenburg und Lehrter Stadtbahnhof, Gleis 3 noch bis mindestens 23:00 Uhr.
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