Der Reichsbahnerstreik von 1980

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Die nachfolgende Chronologie beruht auf Zeitungsartikel, internen Schreiben sowie Zeitzeugenaussagen. Es kann nicht in jedem Fall die Richtigkeit der dargestellten Einschränkungen und Maßnahmen garantiert werden, zu unübersichtlich stellte sich an vielen Tagen die Betriebslage in Westberlin dar. Wenn Sie Ergänzungen und Berichtigungen zu den einzelnen Punkten haben, dann setzen Sie sich bitte mit uns in Verbindung.

Montag, 15. September 1980

Die Deutsche Reichsbahn verkündet offiziell die Fplä 31. Es kommt in fast allen Westberliner Dienststellen zu ersten Unmutsbekundungen und heftigen Diskussionen zwischen Arbeitern und verschiedenen Leitungsmitgliedern. Zeitweise gibt es erste spontane und kurze Arbeitsniederlegungen.
Der Fraktionsvorsitzende der Berliner CDU, Heinrich Lummer, fordert die Alliierten auf, sich zu den geplanten Verkehrseinschränkungen zu äußern.

Dienstag, 16. September 1980

Auch an diesem Tag gibt es weitere spontane Arbeitsniederlegungen. Der Berliner Senat unterrichtet die Alliierten über die von der DR beabsichtigten Verkehrseinschränkungen. Mit Verweis auf eine fehlende offizielle Information aus Ostberlin lehnt ein Sprecher der Alliierten jegliche Stellungnahme ab. Die Berliner Landesverbände von CDU und FDP wollen in den angekündigten Fahrplaneinschränkungen eine Verletzung der Betriebspflicht erkennen und fordern die Bundesregierung auf, entsprechende Übernahmeverhandlungen mit den Alliierten aufzunehmen.
Die Westberliner Presse vermeldet mit unterschiedlichen Angaben die vorgesehene Einstellung des S-Bahnverkehres.

Mittwoch,17. September 1980 - Flugblatt des Tages

Streik
Zwei Eisenbahner der Frühschicht verweigern auf dem Containerterminal des Hamburger und Lehrter Bahnhofes (HuL) die Arbeitsaufnahme. Wenig später besetzen weitere Mitarbeiter die Dienstgebäude des Bahnhofes. Die Entladung eines Containerzuges wird verhindert, am Abend werden die Zufahrtstraßen mit Containern zugestellt. Am Eingang hängt ein weißes Laken mit roter Aufschrift "Wir streiken!". Weitere Lokführer, Rangierer und Stellwerkpersonale schließen sich im Laufe des Tages dem Streik an. Eine Koordinierungsstelle für die Streikenden wird ebenfalls eingerichtet; man stellt Streikposten auf, nennt erstmals Forderungen und verteilt Flugblätter. Aufgrund von geplanten Wartungsarbeiten am bahneigenen Telefonnetz Basa ist die Kommunikation zwischen den Streikenden bzw. den bestreikten Dienststellen anfangs erschwert bzw. unterbunden. [10] Es werden Kuriere eingesetzt, damit sich die streikbeteiligten Eisenbahner miteinander verständigen können. Im weiteren Streikverlauf wird das Telefonnetz wissentlich abgeschaltet. Eine Eisenbahnerin erinnert sich, daß einige der Dienststellenleiter der bestreikten Dienststellen bei ihrem Vorgesetzten anriefen und um die Abschaltung verschiedener Anschlüsse baten. Die betroffenen Telefonnummern und Telexanschlüsse belegte man mit Leersteckern, so das diese dadurch abgeschaltet waren. Schließlich reichten diese Leerstecker nicht mehr aus und man mußte sich eigene basteln.
Ein Großteil der örtlichen Personale hingegen beteiligt sich bis dahin nicht am Streik. Das für Westberlin verantwortliche Reichsbahnamt 4 fordert alle Streikenden zur Rückkehr an ihre Arbeitsstellen auf.

S-Bahn
Gegen Abend steht auch der S-Bahnverkehr auf der Stadtbahn still, mehrere Züge, aus denen die Wagenhauptsicherung entfernt wurden, blockieren in verschiedenen Bahnhöfen die Strecke. Die wenigen unregelmäßig verkehrenden Züge werden mit eilig herbeigeschafften Ostberliner Triebwagenpersonal besetzt. Einzig die Zuggruppen 1 und 2/3 verkehren noch im 20-Minutentakt. In den S-Bahnbetriebswerken Papestraße und Wannsee versammelt sich ein Teil der S-Bahn-Triebwagenführer, auch die, die frei haben. Gegen 22 Uhr findet im S-Bw Papestraße eine Versammlung mit ungefähr 80 Teilnehmern statt, auf der man sich mit den Forderungen der Kollegen vom Containerbahnhof solidarisch erklärt. Der nachfolgende Auszug aus den handschriftlichen Aufzeichnungen des ehemaligen S-Bahnbetriebsleiters Kisel gibt einen kurzen Überblick auf das Geschehen rund um den 17. September 1980:

Stand der Ablösung der Tf-Personale S-Bw Wannsee
17.9. 22.00 Uhr

1. Ablösung

Die Tf-Personale der Spätschicht, die bis 22.00 gefahren sind, wollten ordnungsgemäß in der Ablösekaue Westkreuz ablösen.
Die für die Nachtschicht erforderlichen 22 Personale der Umläufe Zuggruppe A, H/L und B sind zum Dienst erschienen, haben aber bis auf 3 Tf den Dienst nicht übernommen, sondern sind gegen 21.50 Uhr geschlossen zur Twh Papestraße gefahren, um mit dem Spätdienst zu diskutieren.

Die 19 Tf für die Umläufe 2/3 und 1 (DDR-Personale) haben den Dienst in der Ablösekaue Friedrichstraße ordnungsgemäß übernommen und fahren die Züge.

2. Abgestellte Züge

Zuggr. A   11 Umläufe voll abgestellt
Zuggr. H/L   9 Umläufe voll abgestellt, 6 Züge abgestellt
Zuggr. B   2 Umläufe beide abgestellt
Zuggr 2/3   11 Umläufe DDR-Personale im Einsatz
Zuggr 1   8 Umläufe DDR-Personale im Einsatz

Zuggr. A abgestellt   Par A 1, 2, 3, 9, 10, 11
    Hal A 4, 5, 6, 7, 8
Zuggr. H/L abgestellt   Wk H 1, 3, 5, 7, L 9
Zuggr. B abgestellt   Beu B 2, 4

Fernbahn
Ab Mittag gibt es keinen regelmäßigen Güterverkehr mehr. Die DR übernimmt an den Grenzbahnhöfen zur Bundesrepublik Deutschland weiterhin Züge für Westberlin an (ausgenommen Züge mit lebenden Tieren). Ein Teil der Güterzüge - meist Kohlenzüge und Züge mit leichtverderblichen Waren - wird noch nach Westberlin gefahren, kann dort aber nur in geringem Umfang zugestellt werden. Viele andere Transitgüterzüge (ca. 20) werden auf DDR-Bahnhöfen abgestellt.

Presse und Politik
Die Westberliner Tagespresse berichtet von den ersten Arbeitsniederlegungen am Vortag. Die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED) sieht sich außerstande, die mehrheitlich im FDGB organisierten Reichsbahner zu unterstützen. Der Regierende Bürgermeister Dietrich Stobbe (SPD) läßt verlautbaren, daß die DR die Betriebsrechte verliert, wenn sie ihrer Betriebspflicht nicht nachkommt. Zudem schließt er nicht aus, daß die S-Bahnbetriebsführung auf die Westberliner BVG übergehen könnte - nach vorbehaltlicher Zustimmung der Alliierten. Der von der FDP gestellte Bürgermeister Wolfgang Lüder erklärt, daß im Bedarfsfall der Güterfernverkehr mit Kraftfahrzeugen kurzfristig erhöht werden wird. Desweiteren sind in der Tagespresse der eingestellte Güterverkehr sowie die Besetzung des Containerterminal des Hamburger und Lehrter Bahnhofes Berliner Hauptthema.

Donnerstag, 18. September 1980 - Flugblatt des Tages

Streik
Auf dem Containerterminal des Hamburger und Lehrter Bahnhofes findet gegen 15 Uhr eine Streikversammlung mit 400 - 600 Teilnehmern statt, es bildet sich ein 20köpfiges Streikkomitee, bestehend aus Mitarbeitern aller Dienststellen, das mit Ostberlin verhandeln soll. Gemeinsam stellt man die folgenden Forderungen auf:

Die Streikenden drohen erstmals mit der Blockade des Transitverkehres in die Bundesrepublik. Auch verweisen sie auf die Schuld des Senates, der jahrelang gegen die Reichsbahn gehetzt und den S-Bahnboykott unterstützt habe. Die Reichsbahndirektion lehnt jedoch die Forderungen ab und läßt weitere (15?) fristlose Kündigungen aussprechen. Zudem verkündet sie zum 1. November die teilweise bzw. völlige Stillegung von zwölf Westberliner Güterbahnhöfen.
Die Reichsbahn entzieht einem Teil der Westberliner Eisenbahner die Dienstpässe, so daß diese Ostberlin nicht mehr betreten können Wahrscheinlich aus Angst vor Solidarisierungen will sie damit eine Kontaktaufnahme zu Ostberliner Eisenbahnern erschweren bzw. verhindern.

S-Bahn
Triebfahrzeugführer der S-Bahn verweigern am S-Bahnhof Westkreuz die Arbeitsaufnahme. Am Abend versuchen 40 Streikende, die Schaltwarte Halensee, von der aus das Westberliner S-Bahnnetz mit Strom versorgt wird, zu besetzen. Die Bahnpolizei verhindert jedoch das Eindringen in den Gebäudekomplex. Es verkehren den ganzen Tag über die Zuggruppen 1, 2/3 und H/L; die gefahrenen Takte werden jedoch ab Mittag auf 60 Minuten ausgedehnt. Ausgehend von einer führenden Stelle im Containerbahnhof HuL koordinieren nun auch einige Streikteilnehmer die Ausstände in den beiden S-Bahnbetriebswerken.
Im S-Bw Wannsee wird gegen Mittag der Dienststellenleiter gezwungen, die Dienststelle zu verlassen. Bei fast allen im Bereich des S-Bw herumstehenden Viertelzügen werden die Wagenhauptsicherungen entfernt; diese sind somit fahruntüchtig. Im S-Bw Papestraße wird das Meisterbüro zum Streikbüro umfunktioniert: Streikposten werden eingeteilt, Getränke und Lebensmittel organisiert. Um weitere Arbeitsaufnahmen zu verhindern, entnehmen die Streikenden auch hier aus allen im Bw stehenden Fahrzeugen die Wagenhauptsicherungen.

Fernbahn
Der Personenfernverkehr läuft mit kleinen Einbußen weitestgehend störungsfrei, lediglich im Bahnhof Spandau wird ein Stellwerk bestreikt, die betroffenen Züge werden über Wannsee umgeleitet. Der Güterverkehr dagegen ist wegen der Arbeitsniederlegungen in den Rangierbahnhöfen Grunewald, Moabit, Neukölln, Ruhleben und Wannsee komplett eingestellt. Auf den Güterbahnhöfen Schönholz, Tempelhof und Wilmersdorf kann noch rangiert werden. Auf DDR-Gebiet sind mittlerweile über 30 Transit-Güterzüge abgestellt.

Presse und Politik
Der Regierende Bürgermeister Dietrich Stobbe verfolgt "mit Sympathie" den Streik und erklärt, daß die Versorgung des Westteils der Stadt nicht gefährdet sei und die nun zusätzlich anfallenden Fahrgastfahrten "ohne Schwierigkeiten" von der BVG aufgefangen werden können. Trotz dieser Sympathiebekundungen äußert sich ein Eisenbahner auf der Streikversammlung [24]:

Jahrelang hat er uns als Kommunisten diffamiert (...) und wenn er uns jetzt lobt, so doch nur, weil es gegen die DDR geht, und anschließend läßt er uns wieder fallen wie eine heiße Kartoffel.

Die Ostberliner Nachrichtenagentur ADN spricht in einer dürren Meldung von "unverantwortlichen Provokationen gegen den S-Bahn-Verkehr" und verweist auf das hohe Betriebsdefizit, das nicht länger von der DDR und ihren Bürgern getragen werden dürfe. Zugleich wird der Senat aufgefordert, endlich in Verhandlungen mit Ostberlin einzutreten. In den Zeitungen der DDR wird zum Streik keine Zeile verlautbart.

Freitag, 19. September 1980 - Flugblatt des Tages

Streik
Die Reichsbahndirektion Berlin verweigert weiterhin jedes Gespräch mit den Streikenden, die sich daraufhin mit mehreren Aufrufen an die Gewerkschaften und die Bevölkerung wenden. In diesen Aufrufen wird auch auf die nicht vorhandene Streikunterstützung hingewiesen. Trotz fehlender Streikkasse und der Ungewißheit, wie lange der Ausstand noch andauern wird, ist die Stimmung unter den Eisenbahnern gut, und man ist optimistisch.

S-Bahn
Auch an diesem Tag verkehren die Züge der Zuggruppen 1, 2/3 und H/L anfangs im 60-Minutentakt. Um 8.30 Uhr kann sogar ein 30-Minutentakt auf der Ringbahn zwischen den S-Bahnhöfen Sonnenallee und Gesundbrunnen vermeldet werden. Am Abend ist jedoch auch dieser wieder eingestellt, dafür verkehren weiterhin die Zuggruppen 1, 2/3 und H/L, wenn auch in unterschiedlichen Takten. Beim kurzzeitig gefahrenen Ringverkehr handelte es sich höchstwahrscheinlich um aus der DDR herangeholtes Triebwagenpersonal. Deren Zug wird im S-Bahnhof Tempelhof angehalten, die Kollegen nach Hause geschickt, die Fahrzeuge werden an Ort und Stelle abgestellt und verschlossen. Das gleiche passiert mit einem weiteren Halbzug auf der Stadtbahn; dieser wird im Bahnhof Tiergarten abgestellt. Die Streikleitung entschließt sich, den letzten Halbzug der Stadtbahn, der zwischen Friedrichstraße und Charlottenburg mit DDR-Personal verkehrt, ohne Beeinträchtigungen weiterfahren zu lassen, um Rentner und Reisende aus der DDR weiterhin die Ein- und Ausreise aus Westberlin zu ermöglichen.
Das Stellwerk Hal in Halensee wird nun durch alle vier Fahrdienstleiter sowie zusätzliche Streikposten bestreikt.

Fernbahn
Bis zum Mittag passieren zwei Züge in Richtung Hamburg den Bahnhof Spandau (heute Stresow). Im Laufe des Tages werden die Stellwerke in Grunewald, Moabit und Spandau bestreikt. Der Bahnhof Spandau wird daraufhin gesperrt. Sämtliche hier geplanten Züge von und nach Hamburg werden ab sofort über Wannsee und den Außenring geführt. Der Güterverkehr ist nun komplett eingestellt.

Presse und Politik
Ein Sprecher der Alliierten erklärt, es handele sich um einen Streik, wie er auch anderswo vorkomme. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB - genau dieselbe Dachorganisation, die nach dem Mauerbau 1961 den S-Bahnboykott ausgerufen hatte) bekundet Sympathie mit den Streikenden. Auf höherer Politikebene führt der Leiter der Ständigen Vertretung in Ostberlin, Günter Gaus, mit der DDR-Führung ein informatorisches Gespräch.


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