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Sonnabend, 20. September 1980
Streik
Die Westberliner Bevölkerung unterstützt die Streikenden nun mit Geld- und Lebensmittelspenden. Aus Westberlin und der Bundesrepublik treffen ebenfalls Solidaritätsbekundungen und Spenden aller Art ein. Nach Pressemeldungen wurden innerhalb der letzten 24 Stunden über 60 Kündigungen ausgesprochen. Die Frankfurter Rundschau vom 20. September nennt die Streikenden "Kellerkinder der Westberliner Lohnskala, doch immerhin: fast schon Helden." Das Streikkomitee gibt in einer Pressekonferenz bekannt, das sich von den knapp 3.500 Reichsbahnern ca. 500 bis 600 Eisenbahner aktiv am Streik teilnähmen, eine weitere große Zahl befände sich im passiven Streik.
S-Bahn
Der S-Bahnverkehr kommt so gut wie komplett zum Erliegen. Zur Bedienung des Grenzübergangs Friedrichstraße verkehren nun nur noch jeweils zwei Umläufe zwischen Friedrichstraße und Charlottenburg sowie Gesundbrunnen und Anhalter Bahnhof. Der Dienststellenleiter des S-Bahnbetriebswerkes Wannsee informiert die Streikleitung, daß der gesamte Bahnverkehr der Deutschen Reichsbahn in Westberlin eingestellt werden würde, wenn der Streik nicht bis Montag beendet wäre.
Fernbahn
Es gibt bis zirka 22 Uhr keine Einschränkungen im Reiseverkehr. Am Vormittag wird durch die Bahnpolizei das Stellwerk und der Bahnhof Spandau geräumt. Der D 336 (Bln Friedrichstraße—Hmb-Altona) und der D 1333 (Hmb-Altona—Bln Friedrichstraße) verkehren daraufhin am Nachmittag wieder über Spandau, alle anderen Züge fahren weiter via Wannsee. Ein Zug der britischen Militäradministration verspätet sich in seiner Abfahrt, da das planmäßige Lokpersonal sich weigert, den Zug zu fahren. Er wird vier Stunden später durch einen Lokführer des Bw Grunewald abgefahren.
Im Bahnhof Spandau wird der Leiter des Stellwerkes (?) von Streikenden in das Stellwerk eingeschlossen. Ein hinzukommender Polizist weist die Streikenden auf den Umstand hin, daß es sich dabei um den "Verdacht der Freiheitsberaubung" handeln könnte. Daraufhin wird der eingeschlossene Eisenbahner wieder freigelassen [11]
Abgestellter Militärzug der amerikanischen Militäradministration auf Gleis 12 nahe dem Stellwerk Gdn.
(Symbolbild, undatiert).
Am Abend gegen 20.30 Uhr besetzen Streikende das Stellwerk Zow am Südende des S-Bahnsteiges des Bahnhofes Zoologischer Garten. Der bereits bereitgestellte D 301 (Bln Friedrichstraße—München Hbf) kann dadurch um 21.51 Uhr nicht mehr abfahren. Die Streikenden lassen den verspäteten D 351 (Frankfurt/M—Bln Friedrichstraße) sowie den D 347 (Köln Hbf—Bln Friedrichstraße) in den Bahnhof Zoo ein- und als Leerzug nach Bln-Rummelsburg in Ostberlin wieder abfahren. Der letztere Zug sollte von der Reichsbahn erst gar nicht angenommen werden. In der Nacht kommt es zu Übergriffen innerhalb der Station. Je nach Standpunkt liest sich das so:
Standpunkt West:
Am 20.9.80 um 20.30 Uhr klopfte es an der unteren Eingangstür des Stellwerksgebäudes. Vor der Tür standen acht Kollegen ohne jegliche „Waffen“, die mich fragten, ob ich an einer friedlichen Bestreikung des Stellwerks mit dabei sei. Spontan erklärte ich mich mit den Streikenden solidarisch. Über Wechselsprechanlage verständigte ich den Fdl Zoo über die friedliche Bestreikung des Stellwerkes. Ich sagte ihm mit Einvernehmen der Kollegen zu, daß die Einfahrten aus der Bundesrepublik gewährleistet sind.
Noch während dieser Verständigung rief uns der Posten zu: "Kinder, es geht los. Eine Mannschaft Bapos kommt mit Äxten, Brechstangen, Hunden und Schlagstöcken den Bahnsteig heruntergestürmt."
Kurz danach hörten wir schon das Holz der unteren Tür zersplittern. Das wütende Gebell der Hunde (Rottweiler) wurde immer heftiger. Uns saß die nackte Angst im Nacken.
Die obere Tür zerbarst unter den Hieben, die Rückwand des Spindes war auch schon durchschlagen, als endlich die Westberliner Polizei uns zu Hilfe kam. Zurück blieb ein unwahrscheinliches Trümmerfeld. [12]
Standpunkt Ost:
Auf dem Bahnhof Zoo (...) unterstützte die Bahnpolizei arbeitswillige Fahrdienstleiter des Stellwerkes Zow und besetzte es ihrerseits. (...) Das Stellwerk Zow wurde von der Westberliner Polizei überfallen, die arbeitswilligen Fahrdienstleiter und die Bahnpolizisten aus dem Stellwerk geführt und das Stellwerk an die "Streikenden" übergeben. [13]
Was passierte also wirklich?
Der Bahnhof Zoologischer Garten ist im Laufe des Tages durch die Mitarbeiter der Bahnpolizei abgeriegelt worden, um Bestreikungen zu vermeiden. Einer der Fahrdienstleiter des Bahnhofes, Heinz K., schlich sich zum damals geschlossenen Zugang beim Supermarkt Ullrich und ließ die Streikenden auf den Bahnsteig. Diese besetzen daraufhin das Stellwerk Zow. Kurz darauf erscheint die Bahnpolizei mit Äxten, Brechstangen und Hunden, zerschlägt die Eingangstür und dringt die Treppe hinauf. Die Anwesenden können jedoch das Betreten des Stellwerkraumes verhindern und rufen über Megaphon um Hilfe. Die daraufhin alarmierte Westberliner Polizei verhindert die Räumung des Stellwerkes. Ein arbeitswilliger Fahrdienstleiter soll nun durch Vorgabe des Dienststellenleiters auf diesem Arbeitsplatz eingesetzt werden. Die Streikenden weisen die anwesende Westberliner Polizei darauf hin, daß dieser Fahrdienstleiter auf dem Stellwerk Zow nicht geprüft sei; diese unterbindet daraufhin dessen Einsatz.
Gegen 22.30 Uhr (andere Quellen sprechen von 23.30 Uhr) erscheint ein britischer Sicherheitsoffizier; in den umliegenden Straßen fährt Bereitschaftspolizei auf. In der Nacht versuchen um die 70 Zivilisten* (nach Aussagen der Streikenden größtenteils Bahnpolizisten und Mitglieder der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins), das Stellwerk zu erstürmen. Die anwesende Westberliner Polizei verhindert jedoch deren Eindringen in das Gebäude.
Kurz nach Mitternacht erscheinen mehrere hohe Westberliner Polizeioffiziere und stellen gegenüber den Streikenden fest, daß ihnen zwar als Westberliner das Streikrecht zustehen würde, die Reichsbahn, die Bahnpolizei und Ostberliner Eisenbahner jedoch das Recht hätten, die Diensträume zu betreten. Die Westberliner Polizei würde nur Übergriffe - egal von welcher Seite - verhindern wollen.
*) je nach Quelle bis zu 100 Zivilisten.
Kurz nach 3 Uhr nachts wird der seit über fünf Stunden überfällige D 301 von Reisenden geräumt und zurück nach Ostberlin überführt. Die Autoreisezüge D 1306 (Villach—München Ost—Probstzella—Bln Friedrichstraße) und der D 1351 (Lörrach—Gerstungen—Bln Friedrichstraße) werden beide nach Hannover (!) umgeleitet und dort entladen. Der Fahrdienstleiter Heinz K., der den Streikenden Zugang zum Bahnsteig gewährte, wird nach Streikende entlassen.
Presse und Politik
Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) erklärt auf dem gerade im ICC stattfindenden 13. Gewerkschaftstag der IG Metall, das sich die Bundesregierung nicht in den Tarifkonflikt einmischen werde. Zudem spricht er anerkennend von den Bemühungen der DDR, ihre Verpflichtungen im Zusammenhang mit den Betriebsrechten weiterhin wahrnehmen zu wollen. Der Regierende Bürgermeister Stobbe redet auf derselben Veranstaltung davon, dass die Streiklage unter anderem eine Folge davon sei, das sich die Westberliner Eisenbahner nicht gewerkschaftlich organisieren wollten. Der sechstägige Kongreß der IG Metall gibt zu keinem Zeitpunkt eine Stellungnahme ab. Eine Streikdelegation wird zwar vom Organisationsleiter der Veranstaltung vorgelassen, sie muß aber ohne öffentliche Anhörung wieder unverrichteter Dinge abziehen.
Die Ostberliner Nachrichtenagentur ADN spricht nun von "Terroraktionen" und "Terrorgruppen", aber niemals von "Streik".
Sonntag, 21. September 1980 - Flugblatt des Tages [1] - Flugblatt des Tages [2] - Flugblatt des Tages [3]
Streik
Während sich am Nachmittag die Westberliner Bereitschaftspolizei vom Bahnhof Zoologischer Garten zurückzieht, bleibt die Station weiterhin bestreikt. Die dramatische Aktion in der Nacht auf dem Bahnhof Zoo führt zu starken und teilweise hitzigen Diskussionen unter den Streikenden. Diese Dispute drehen sich immer wieder um die zentrale Frage, wer die Westberliner S-Bahn übernehmen sollte: entweder der Senat oder die westdeutsche Bundesbahn. Bei der Reichsbahn will keiner mehr bleiben; fast alle Eisenbahner, die mit Leib und Seele bei der Bahn sind, plädieren für einen entsprechenden Wechsel.
S-Bahn
Zur Bedienung des Grenzübergangs Friedrichstraße verkehren nun nur noch jeweils zwei Umläufe zwischen Friedrichstraße und Charlottenburg sowie Gesundbrunnen und Anhalter Bahnhof.
Fernbahn
Nach den Ereignissen der Nacht ruht nun der komplette Transitverkehr. Es wird ein Busersatzverkehr zwischen Westberlin und der Bundesrepublik eingerichtet. Startpunkt ist der Zentrale Omnibusbahnhof (ZOB) am Funkturm, Räume des angrenzenden ICC werden als Warteräume umfunktioniert. Die bereits gelösten Eisenbahnfahrkarten werden dabei alle als gültige Fahrausweise anerkannt. Der ungewöhnlichste Schienenersatzverkehr findet nur an diesem Tag mit Flugzeugen statt: Die Fluggesellschaften PAN AM und British Airways fliegen - zum Eisenbahntarif! - von und nach Hannover und Frankfurt/Main.
Die DR nimmt nun keine Züge mehr aus der Bundesrepublik an, einzig der D 345 (Köln Hbf—Bln Friedrichstraße) und der D 1335 (Hmb-Altona—Bln Friedrichstraße) sowie die Transitzüge in die Volksrepublik Polen verkehren via dem Nördlichen Außenring zum Bahnhof Friedrichstraße. Letzterer fährt nach dem nun nötigen Fahrtrichtungswechsel weiter nach Osten. Der Autoreisezug D 1331 (Westerland (Sylt)—Bln Friedrichstraße) endet vorzeitig in Hamburg-Altona; die Autos werden dort wieder entladen. Vom Bahnhof Friedrichstraße verkehren in Richtung Bundesrepublik via Marienborn/Helmstedt die folgenden Züge:
Die ARD-Tagesschau berichtet von Transitzügen, die zwar von Bebra in Richtung Westberlin abfuhren, aber von der DDR hinter der Grenze (Grenzbahnhof Gerstungen?) wieder zurückgeschickt wurden. Einzig die in den Zügen anwesenden DDR-Bürger werden von der Reichsbahn weitertransportiert, alle anderen Reisenden müssen (ab Bebra?) auf Busse umsteigen. [14]
Presse und Politik
Die Tageszeitungen berichten weiterhin vom Streikgeschehen. Der Tagesspiegel schreibt in [15] von zwei Güterzügen, die am Freitag zwar Westberlin erreichten, aber schon wenige hundert Meter nach dem Bahnhof Ruhleben von den Streikenden gestoppt werden. Desweiteren erklärt die Zeitung die Rolle der Westberliner Bahnpolizei und deren geschichtlichen Hintergrund. In einem weiteren Artikel unter dem Titel "Weichensteller gesucht" schreibt sie:
Zu lange hat die Politik das mit der Mauer amputierte Stück öffentlichen Verkehrs als eine Art Geisterbahn betrachtet, obgleich die S-Bahn immer noch von vielen täglich genutzt wird und der Transitverkehr mit der Bahn wieder populärer, weil schneller und reibungsloser geworden ist. (…) Der Senat und die Bundesregierung haben mit betont unterkühlten Stellungnahmen zu erkennen gegeben, daß sie den Arbeitskampf nicht mit zu großen politischen Gewichten betrachten wollen. [16]
Und sie führt weiter aus:
Doch sind sich alle Verantwortlichen gewiß im klaren darüber, daß dieser Ausstand wieder eine Wendemarke in Berlins Nachkriegsgeschichte setzt, ob man die darin steckende Aufforderung jetzt annimmt oder nicht. Denn es kann nicht nur darum gehen, berechtigte Forderungen von Arbeitnehmern zu befriedigen. Der DDR die angegebenen 140 Millionen Mark S-Bahn-Defizit abzunehmen, wird keinem einfallen. Es muß ohne Hektik, aber gründlich geprüft werden, ob und wie die in West-Berlin verfügbaren öffentlichen Verkehrsmittel endlich alle unter einen Hut gebracht werden können, da man mit Fahrplänen der Zeitgenossen wegen auf die Wiedervereinigung nicht warten kann (...)
Die DDR würde der West-Berliner S-Bahn kaum nachtrauern, wenn diese etwa im Rahmen eines Verkehrskonzeptes unter BVG-Regie in freilich kostenträchtigen Schwung gebracht werden würde ... [16]
Montag, 22. September 1980 - Flugblatt des Tages [1] - Flugblatt des Tages [2]
Streik
Gegen 4 Uhr morgens räumen die Streikenden das Stellwerk "Zow". Die Streikleitung erklärt, sie wolle mit der Räumung einen Beitrag zur Entspannung der Situation leisten. Das ruft bei den Streikenden Unmut hervor, die Streikleitung muß sich ihnen gegenüber entsprechend rechtfertigen. Man verstehe nicht, warum man dieses wichtige Faustpfand einfach so hergeben könne.
Die Reichsbahndirektion signalisiert trotzdem im Laufe des Tages weiterhin keine Verhandlungsbereitschaft. Daraufhin erklärt die Streikleitung, daß die Streikenden künftig nicht mehr unter der Regie der Reichsbahn arbeiten wollen. Sie fordern den Senat auf, unverzüglich Verhandlungen mit der Reichsbahn und den Alliierten wegen der Übernahme der Betriebsrechte aufzunehmen. Der Regierende Bürgermeister Stobbe weist kurz danach diese Forderung zurück und erklärt, daß die Reichsbahn unter keinen Umständen aus ihren Verpflichtungen gegenüber den Arbeitnehmern entlassen werden könnte. Nach dieser Absage macht sich unter den Streikenden Resignation und Niedergeschlagenheit breit.
Für wenige Tage im Brennpunkt der Öffentlichkeit: das Stellwerk Zow am südlichen Ende der S-Bahnhalle.
(Symbolbild, Aufnahme von 1976).
Am Nachmittag wird gegen 15.45 Uhr das Stellwerk "Hal" in Halensee von der Bahnpolizei gestürmt. Ein Fahrdienstleiter dazu:
Da wir uns bedroht sahen (durch die beginnende Erstürmung - d.A.) haben wir vor das Fenster, das über eine Behelfstreppe als Eingang diente, Schränke gestellt. Die unter Aufsicht sowjetischer Militärangehöriger anstürmenden Bapo zerschlugen die Fensterscheibe und zertrümmerten mit ihren Äxten Schränke und Sessel, obgleich hierfür nach ihrem Eindringen kein Anlaß mehr gegeben war. Unter Androhung von Gewaltmaßnahmen durch die Bapo verließen wir, ohne Widerstand zu leisten, das Stellwerk, daß durch die mit brachialischer Gewalt eindringenden Bapo wie ein Schlachtfeld aussah.
Und er fügt hinzu:
Die Behauptung, daß ein dienstverrichtender Fahrdienstleiter des Stellwerkes durch zehn Streikende zum Verlassen des Stellwerkes gezwungen wurde, weise ich als unwahr zurück. [17]
Auf der den Bahnhof Halensee überquerenden Kurfürstendammbrücke versammeln sich während der Aktion viele Passanten. In einer spontanen Sammlung kommen in wenigen Minuten mehr als 200 DM zusammen. Wenige Minuten nach der Erstürmung des Stellwerkes treffen Offiziere der Sowjetischen Militäradministration ein, um sich über die Lage an Ort und Stelle zu informieren. Aufgrund eines unfreundlichen Empfangs der anwesenden Bevölkerung ziehen sie es jedoch vor, den Ort des Geschehens schnellstmöglich zu verlassen. Die Westberliner Polizei trifft erst eine halbe Stunde nach den Ereignissen ein und ist schnell mit den aufgebrachten Eisenbahnern und Bevölkerung konfrontiert, die sich emotionsgeladen über das Vorgehen der Bahnpolizei beschweren.
S-Bahn
Zur Bedienung des Grenzübergangs Friedrichstraße verkehren nun nur jeweils zwei Umläufe zwischen Friedrichstraße und Charlottenburg sowie Gesundbrunnen und Anhalter Bahnhof.
Fernbahn
Als erster Zug verläßt der D 344 (Bln Friedrichstraße—Köln Hbf) um 11.03 Uhr mit zwölf Minuten Verspätung den Bahnhof Zoologischer Garten in Richtung Köln. Der Busersatzverkehr vom ZOB in die Bundesrepublik wird daraufhin eingestellt.
Presse
Die Geschehnisse vom Vorabend auf dem Bahnhof Zoologischer Garten bestimmen die Berichterstattung. Selbst die Tagesschau berichtet in einem knapp 7minütigen Beitrag über die Ereignisse und die Streikauswirkungen.
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