1939-1946 - S-Bahnzüge und Raketen


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Die Peenemünder Schnellbahnwagen

Die geheimnisvolle Vergangenheit Peenemündes nahm Mitte der 30er Jahre konkrete Gestalt an: Hohe Militärs hatten das Potential erkannt und unter strengen Sicherheitsauflagen begann sich die idyllische und nur dünn besiedelte Nordspitze der Insel Usedom 1936 zu verwandeln. Im Jahr darauf zum Sperrgebiet erklärt, entstanden auf dem riesigen Areal ein Versuchsgelände für Raketen- und Flugzeugtechnik mit Entwicklungs- und Fertigungsstätten. Tausende Bauarbeiter, später auch Fremd- und Zwangsarbeiter sowie KZ-Häftlinge errichteten:

Zug um 1942

Das Oberkommando des Heeres (OKH) betrieb die "Forschungs- und Versuchsanstalt für ferngelenkte raketengetriebene Sprengkörper" - hier entwickelte man das "Aggregat 4" (A 4), das später als Vergeltungswaffe 2 (V 2) bezeichnet wurde. In und um Peenemünde wurden die Werk- und Forschungsanlagen errichtet, im Bereich Karlshagen die Wohnsiedlung und in Trassenheide ein Barackenlager für Fremdarbeiter und Hilfskräfte. Eine in Trassenheide geplante Großsiedlung für rund 16.000 Menschen entstand nur auf dem Reißbrett.

All diese Orte verband das 106 Kilometer lange Schienennetz einer Werkbahn, welche die Verbindung von den Standorten der Kriegs- und Raketentechnik zum Barackenlager, zur Siedlung Karlshagen und nach Zinnowitz herstellte. Dort gab es einen Anschluß an die Reichsbahnstrecke über Swinemünde und Ducherow nach Berlin sowie in Richtung Wolgaster Fähre. Betreiber dieser Werkbahn war die Heeresversuchsstelle Peenemünde (HVP) selbst.

Die elektrischen Schnellbahnwagen

Im Spätsommer 1940 erteilte die Gruppe VI Aufträge für zehn Triebzüge an die Siemens-Schuckertwerke (elektrische Ausrüstungen) sowie an die Dessauer Waggonfabrik (Triebwagen) und an Busch Bautzen (Steuerwagen). Ende Januar 1941 orderte man fünf Einheiten nach. In Wagenbau und elektrischer Ausstattung stellen die Fahrzeuge eine Synthese aus Berliner S-Bahnwagen der Bauart 1939 und den U-Bahnwagen für das sogenannte Projekt "C-D-E-Linien" in Buenos Aires dar. Ab 1933 errichtete Siemens als Konsortialführer in der argentinischen Hauptstadt ein Untergrundbahnsystem mit Oberleitung und einer Gleichspannung von 1500 Volt, dessen erste Linie C am 9. November 1934 eröffnet wurde. Die Triebwagen stellte die Firma Orenstein & Koppel im Werk in Berlin her, die Steuerwagen deren Zweigwerk, die Dessauer Waggonfabrik. Diese Fahrzeuge stellen im Wagenbau eine Mischung aus den 18-Meter-U-Bahnwagen des Typs C II für die BVG und den S-Bahnwagen der Bauart 1932 dar.

U-Bahn

Ein U-Bahnwagen für das sogenannte Projekt "C-D-E-Linien" in Buenos Aires nach der Abnahme in Berlin-Siemensstadt, bevor die Züge nach Argentinien verschifft wurden.

Die Siemens-Schuckertwerke als Projektführer bei den Peenemünder Schnellbahnwagen griffen bei der Ausrüstung der elektrischen Werkbahn auf ihre Erfahrungen aus dem Buenos-Aires-Auftrag zurück. Wesentliche Teile wie Fahrschalter, Ausrüstungsteile im Führerstand oder Schaltwerk finden sich in den Triebzügen für die Insel Usedom wieder.

Die Farbgebung entsprach der für Reichsbahn-Triebwagen üblichen. So war das Dach grüngrau (RAL 7009), die obere Hälfte elfenbein (RAL 1001, heutiger Name beige) mit dunkelrotem Streifen abgesetzt, die untere Hälfte Dunkelrot (RAL 3004, heutiger Name purpurrot) mit Streifen in elfenbein abgesetzt und das Untergestell mit Drehgestellen schwarz lackiert.

Fahrgastraum

In der Innenausstattung entsprachen die Peenemünder Schnellbahnwagen weitgehend den Berliner S-Bahnfahrzeugen der Bauarten 1937-39. Jedoch gliederten sich die Fahrgasträume von Trieb- und Steuerwagen in drei statt zwei Abteile: Unmittelbar hinter dem Führerstand bis hinter die erste Fahrgastraumtür schloß sich ein kleiner Dienstraum für das Personal an. In der Zwischenwand zum Fahrgastraum befand sich eine Durchgangstür. Statt eines Großraumes wie bei den Berliner Triebwagen war bei den Peenemünder Schnellbahnwagen der Fahrgastraum durch eine feste Trennwand geteilt.
Alle Abteile waren einheitlich als dritte Wagenklasse ausgestattet sowie die Triebwagen als Nichtraucher- und die Steuerwagen als Raucherabteile gekennzeichnet. Jeder Wagen bot 25 Sitzplätze im ersten und 30 Sitzplätze im zweiten Abteil. Seiten- und Zwischenwände waren aus rot-braun gebeiztem und poliertem Eichenholzfurnier gefertigt, die Latten der Sitzbänke aus Eschenholz.

Was bei der Berliner S-Bahn in Sachen "Entfeinerung" erst ansatzweise erprobt wurde, setzte man bei den Peenemünder Schnellbahnwagen gleich serienmäßig um:

27 Opalglaslampen - direkt über den Sitzplätzen und im Mittelgang angeordnet - beleuchteten den Wagen; mittig im Türbereich gab es je eine Notlichtlampe der Bauart Graetz.
Im August 1941 begannen die Dessauer Waggonfabrik und Busch Bautzen mit der Fertigung der 15 Trieb- bzw. 15 Steuerwagen.

Inbetriebnahme in Berlin-Schöneweide

Ins Reichsbahnausbesserungswerk Schöneweide kamen die Züge mit weitgehend montierter elektrischer Anlage. Fehlende Teile rüsteten die SSW-Arbeiter, Reichsbahner und zwei dort zur Ausbildung beschäftigte Schlosser der Peenemünder Werkbahn nach oder nahmen Änderungen vor. Auf einem mit Oberleitung überspannten 1130 Meter langen Probegleis im Reichsbahnausbesserungswerk nahm man die Abnahmefahrten vor.

Der elektrische Werkbahnbetrieb beginnt

Im Dezember 1942 und im Januar 1943 wurden die Fahrzeuge nach Peenemünde überführt, der letzte Viertelzug traf dort am 15. Januar 1943 ein. Die erste dokumentierte Probefahrt mit einem elektrischen Vollzug fand am 28. Februar 1943 auf den Strecken Trassenheide-Werk West-Peenemünde Dorf und der Ringbahn statt.

Am 15. April 1943 nahm schließlich die Werkbahn ihren elektrischen Betrieb auf und ab 1. Juni 1943 galt ein dichter Fahrplan. Im Fahrplanheft fand sich nun auch der Hinweis auf S-Bahn-Triebwagenzüge, die große Teile des Arbeiterverkehrs zwischen den Forschungs-, Entwicklungs- und Fertigungsstätten und den Wohnquartieren übernahmen. Sie fuhren in der Regel als Halbzüge (ET + ES + ES + ET) und wurden in den Hauptverkehrszeiten zu Sechs- oder Achtwagenzügen verstärkt.

Trassenheide

1944 fährt ein S-Bahn-Halbzug ein einfarbiger Lackierung aus dem Bahnhof Trassenheide Dorf Richtung Zinnowitz.

Das Ende

In der Nacht vom 17. zum 18. August 1943 flog die britische Royal Air Force einen Luftangriff auf Peenemünde, bei dem in rund 60 Minuten 1593 Tonnen Sprengstoff und 281 Tonnen Brandbomben abgeworfen wurden. Dabei kamen 732 Menschen zu Tode, größtenteils KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, die in ihren Baracken verbrannten, aber auch Bewohner der Siedlung Karlshagen, die eigentlich das Ziel des Angriffs war.
Dabei wurden im Bereich Karlshagen auch Anlagen der Werkbahn zerstört. Schwer getroffen hatte es die große Wagenhalle, deren Stützkonstruktion allerdings standhielt. Vier Viertelzüge und zwei Steuerwagen wurden durch Spreng- und Brandbomben zerstört, andere durch herabstürzende Dachteile und Splitter beschädigt. Einen Viertelzug brachte man zur Instandsetzung in das Reichsbahnausbesserungswerk Schöneweide, von wo er aufgearbeitet am 12. November 1943 nach Karlshagen zurückkehrte. In Berlin hatte er einen feldgrauen Anstrich erhalten. Keinen Tarnanstrich, wie mitunter zu lesen ist, sondern - wie ein Eintrag vom 26. November in der Chronik lapidar Auskunft gibt - "weil rote Farbe nicht mehr erhältlich war". Augenzeugen berichten, daß nur wenige Fahrzeuge die graue Farbe trugen.

Ab 17. Februar 1945 verließen Transporte mit Technikern und Spezialisten die Insel Usedom in Zügen, in die auch S-Bahnwagen eingestellt waren. Am 4. Mai 1945 hatten sowjetische Truppen die Nordspitze der Insel eingenommen, riegelten sie hermetisch ab und ließen sie nach Spuren der Raketenforschung absuchen.

zerstört

Zerstörter Steuerwagen (Stw 15).

Bis 18. April 1946 war die Oberleitung der Werkbahn in Betrieb, einen Tag später, am 19. April, wurde der elektrische Betrieb auf den meisten Strecken in der sowjetischen Besatzungszone auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration eingestellt, Fahrleitungsanlagen demontiert und verbliebene Fahrzeuge als Reparationsleistung in die Sowjetunion überführt. Drei elektrische Triebzüge, die offenbar zum Evakuierungstroß in Richtung Thüringen gehört hatten, fand man nach Kriegsende im Bezirk der Reichsbahndirektion (RBD) Erfurt vor. Einen Peenemünder Triebzug fand die Reichsbahndirektion Nürnberg nach Kriegsende in ihrem Bereich vor. Er wurde später auf der von München ausgehenden Isartalbahn eingesetzt.

Bei Kriegsende befanden sich vier Wagen der Werkbahn im Raw Schöneweide. Nach entsprechender Anpassung wurden zwei der in Berlin verbliebenen Wagen als Beiwagen in den Wagenpark der Berliner S-Bahn eingereiht. Aus dem Steuerwagen Stw 05 wurde 1949 der Beiwagen EB 167 242 und aus den Triebwagen Trw 05 wurde 1951 der EB 167 243. Beide Nummern waren nicht vergeben, weil die eigentlichen Beiwagen nicht mehr ausgeliefert werden konnten. Die beiden anderen Wagen wurden im Anschluß an den letzten noch ausgelieferten Triebwagen als EB 167 284 und EB 167 285 bezeichnet. Die Führerstände blieben als solche erhalten, jedoch ohne elektrische Einrichtungen und ohne Spitzen- bzw. Schlußlampen. Die Motore der Triebwagen wurden ausgebaut.

Tür

Bei einer Suche auf Peenemünde fand sich diese alte Fahrgastraumtür.

Als 1952 eine Reihe requirierter S-Bahnwagen von der Sowjetunion zurückgegeben wurden, erhielt Berlin auch sieben Viertelzüge (Steuerviertel) der Werkbahn Zinnowitz-Peenemünde, die in der Sowjetunion nicht in Betrieb genommen worden waren. Bevor diese 1953 in Berlin in Betrieb gingen, wurden die Steuerwagen zu Beiwagen umgebaut und die sieben Viertelzüge als ET/EB 167 286-292 bezeichnet. Doch konnten diese Peenemünder Züge mit keinem der 167er im Zugverband fahren, weil ihre Scharfenberg-Kupplung die elektrischen Leitungen nicht kuppeln konnte und sie die elektropneumatische Steuerung der Stadtbahner hatten.

Eine hervorragende Beschreibung über den "Lebensweg" eines Peenemünders lesen Sie unter
Der 426 002 /826 602 - Wege eines Triebwagens


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letzte Änderung:
26. Oktober 2008

Veröffentlichung:
26. Oktober 2008

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