Der Beginn des elektrischen Vorortverkehres
Im Jahre 1913 verabschiedete die preußische Staatsregierung ein Gesetz zur Elektrifizierung der Stadt-, Ring- und Vorortstrecken und bewilligte dafür die erforderlichen Geldmittel. Bedingt des Vorversuchs einer elektrischen Vollbahn in Deutschland sollten die Strecken mit einer Oberleitung mit Einphasen-Wechselstrom (15 kV und 16 2/3 Hz) versehen werden. Als Fahrzeuge sah man die Verwendung von Triebgestellen (führerstandslose Triebfahrzeuge) und Abteilwagen preußischer Bauart aus dem vorhandenen Wagenpark vor. Der Erste Weltkrieg (1914-1918) verhinderte jedoch die Realisation.
Eine Anfang der zwanziger Jahre durchgeführte Bestandsaufnahme des Erreichten und neue Berechnungen der Wirtschaftlichkeit führten zu einer grundsätzlich anderen Entscheidung: nun sah man den Einsatz von Triebwagenzügen mit 800 Volt Gleichspannung und unter Verwendung einer seitlichen Stromschiene vor. Zur Erprobung dieser neuen Technik wurden die Strecken von Bernau (ab 1924), Oranienburg (ab 1925) und Velten (ab 1927) zum Stettiner Vorortbahnhof ausgewählt, da diese bereits viergleisig ausgebaut waren und sich damit für einen unabhängigen Testbetrieb am besten eigneten.
Die Fahrzeuge
Zur Ermittlung der günstigsten Gestaltung der künftigen Fahrzeuge wurden zunächst sechs Züge in Auftrag gegeben, welche in den Fahrplänen der Dampfzüge mitlaufen sollten. Diese sechs Züge reichten für das 70,5 Kilometer lange und in Etappen elektrifizierte Streckennetz natürlich nicht aus, was auch gar nicht beabsichtigt war. Mit den bestellten sechs Zügen sollten erst einmal Erfahrungen gesammelt werden. Dies galt für die Stromversorgung und Betriebsdurchführung ebenso wie auch für die Aufteilung des Fahrgastraumes. Aus diesem Grund sind zwar alle Wagen eines Zuges einheitlich, die sechs Züge aber unterschieden sich in der Anzahl und Größe der Ein- und Ausstiegstüren, der Fenster sowie der Sitzplatzanordnung.
Versuchszug A.
Die Bahnsteige wiesen alle eine Höhe von 760 mm auf. Dies begünstigte die Entscheidung, die Wagen mit einer Fußbodenhöhe von 1000 mm ohne Einstiegstritt zu bauen. Den Unterschied von 240 mm ohne Zwischenstufe zum Ein- bzw. Aussteigen war den Reisenden zumutbar. Erstmals wurden hier anstelle der Drehtüren, wie bei den alten Stadtbahnwagen üblich, einflügelige Schiebetüren eingebaut. Damit wurde das Profil der Wagenbegrenzungen ohne besondere Formgestaltung des Wagenkastens voll ausgenutzt. Ein weiterer Vorteil der Schiebetüren war, dass diese auf dem Bahnsteig wartende Reisende nicht gefährden konnten, wenn sie vorzeitig geöffnet wurden.
Um die Einstiegshöhe von 1000 mm gewährleisten zu können, mussten die Räder einen Durchmesser von 850 mm aufweisen, was bei den Laufachsen auch kein Problem darstellte. Bei den Triebwagen entschloss man sich zur Achsfolge Bo'2, d. h. die beiden vorderen Achsen des Triebwagens wurden angetrieben. Für das geforderte Fahrprogramm war es nötig, Treibachsen zu verwenden, die eine Höhe von 1000 mm hatten, also in der gleichen Höhe wie die festgelegte Fußbodenhöhe der Wagenkästen. Wegen der Höhe der Treibachsen musste der Triebwagen im Bereich der Triebdrehgestelle auf eine Höhe von 1220 mm angehoben werden. Dazu wurden die Längsträger der Triebwagen im Bereich der Triebdrehgestelle gekröpft. Eine Kröpfung ist nichts anderes als ein Versatz. Was im Zusammenhang mit den Versuchszügen bedeutete: Der Fußboden musste im Bereich des Triebdrehgestelles, wegen der Höhe von 1220 mm gegenüber 1000 mm erhöht werden, also versetzt werden. Der Wagen musste darüber hinaus in diesem Bereich zugespitzt werden, damit die nun erforderliche Trittstufe nicht ins Profil ragte. Durch diese Maßnahmen bekamen die Triebwagen ihr charakteristisches Aussehen.
Bedingt des spitzen Zulaufs der Wagenenden war das angrenzende Abteil nicht so bequem zu erreichen wie die anderen Abteile. Dadurch kam es zwangsläufig zu längeren Wartezeiten auf den Bahnhöfen, die in die Gesamtfahrzeit eingerechnet werden musste. Ein weiteres Manko war die Beobachtung des ausfahrenden Zuges für die Triebfahrzeugbegleiter. Die bestehende Sichtbehinderung zwang die Personale dazu, sich weit aus der Tür hinauszulehnen. Das stellte ein nicht unbedeutendes Sicherheitsrisiko dar!
Gebildet wurden die Züge aus Triebwagen + drei Beiwagen + Triebwagen, was die kleinste Zugeinheit darstellte und als Halbzug bezeichnet wurde. Um das Reibungsgewicht des Triebwagens zu erreichen, war eine Fahrzeuglänge von 20 Metern erforderlich. Hinsichtlich der vorhandenen Bahnsteiglängen ergab das für die Beiwagen eines Halbzuges eine Gesamtlänge von 30 Metern. Die Beachtung aller Faktoren führte dazu, dass man die Beiwagen als Zweiachser in einer Länge von je 10 Metern baute. Eine einheitliche Bauweise, wie sie bei der späteren Bauart 1925 erfolgte, war unter den gegebenen Umständen nicht möglich. Die Beiwagen waren untereinander kurz gekuppelt - wie die alten Stadtbahnwagen. Die Triebwagen verfügten anfangs über die Willisonkupplung, welche zu einem späteren Zeitpunkt gegen die Scharfenbergkupplung ersetzt wurde.
Die Züge wurden mit den Buchstaben A bis F bezeichnet. Fünf der sechs Züge (Zug A bis E) hatten die gleiche wagenbauliche Konzeption. Ihre Zusammenstellung erfolgte aus vier Triebwagen mit je vier Achsen und sechs zweiachsigen Beiwagen in der folgenden Anordnung:
Schematische Zugbildung bei den Versuchszügen A bis F - Vollzug ca. 135 Meter.
Beim Versuchszug F ist die Anordnung der Jakobsdrehgestelle dargestellt.
Der sechste Zug (Zug F, auch als Jakobszug bezeichnet) hatte zwar die gleiche Wagenaufteilung, jedoch waren die Wagen innerhalb eines Halbzuges durch Jakobsdrehgestelle miteinander verbunden. Den wagenbaulichen Teil der Züge übernahmen die folgenden Firmen:
Die Ausstattung der Züge
Im Unterschied zu den alten Stadtbahnwagen wiesen die Versuchzüge eine andere Aufteilung der Abteile auf. So hatten die Versuchszüge A, B, D, F nicht mehr die typische 4 + 0 Bestuhlung und die bis an die Decke reichenden Trennwände, sondern erhielten Sitze in der Form 2 + 2. Die Anordnung der Doppel- und Einfachsitze sowie der Windfangwände war in den Wagen jedoch unterschiedlich. Der Versuchszug C dagegen erhielt die Platzaufteilung 4 + 0, wie sie zur damaligen Zeit üblich war. Jedem Doppelsitz wurde hierbei auf der gegenüberliegenden Wagenseite eine Tür zugeordnet. Der Versuchszug E erhielt nach dem Vorbild der Berliner U-Bahn Sitze in Längsrichtung.
Alle Triebwagen waren als 3. Klasse ausgelegt, die Beiwagen in 2. und 3. Klasse aufgeteilt. In drei Wagen wurde die 2. und 3. Klasse gemeinsam eingebaut. Raucher- und Nichtraucherabteile wurden über den gesamten Zug verteilt.
Versuchszug B.
Als Innenbeleuchtung diente die in den Lichterfelder Wagen erprobte elektrische Beleuchtung. Die Lampenspannung betrug 110 Volt, wobei durch Reihenschaltung mehrerer Lampen eine direkte Speisung von der Stromschiene aus erfolgte. In jedem Lampenkörper waren zwei Glühlampen installiert, die zu vier Stromkreisen im Triebwagen bzw. zwei Stromkreisen im Beiwagen zusammengeschaltet waren.
Beheizt wurden die Fahrgasträume mittels elektrischer Heizkörper, die sich unterhalb der Sitzbänke befanden. Diese Heizung konnte in drei einstellbaren Stufen vom Triebfahrzeugpersonal geregelt werden. Die Belüftung erfolgte über auf dem Dach angebrachte Wendlersauger bzw. durch die herablaßbaren Seitenfenster. Über den Sitzen befanden sich Gepäckablagen. Griffstangen an den Ein- bzw. Ausstiegsräumen erleichterten den Reisenden den Zu- und Ausstieg.
Die Zugsteuerung
Da der Konkurrenzkampf mit der Dampflok noch lange nicht bestanden war, wurde der Zugsteuerung die größte Aufmerksamkeit gewidmet. Mit deren Herstellung wurden zwei namenhafte Firmengruppen beauftragt. Zum einen die WASSEG (ein Zusammenschluss aus AEG und SSW) und der Bergmann-Elektrizitäts- und Maffai-Schwartzkopf-Werke (als Firmengruppe BMS bezeichnet).
Einzige Auflage an die Firmen war gewesen, eine Zugsteuerung zu entwickeln, die es ermöglichte, die Züge in einem Verband fahren zu können. Diese Vorgabe erforderte eine engere Zusammenarbeit der beiden Firmengruppen bei der konstruktiven Arbeit. Damit ergab sich eine gleiche Charakteristik der Fahrmotore. Es wurden vier verschiedene Motortypen mit je 170 kW Stundenleistung in Tatzlagerbauart entwickelt und gebaut.
Hersteller | Motortyp | Anzahl |
AEG und SSW | GBM 1620 | 9 Triebwagen |
BMS | BMS 80 | 6 Triebwagen |
BMS | GBR 132/725 | 5 Triebwagen |
Pöge | Pöge | 2 Triebwagen |
Für zwei Triebwagen liegen keine Daten vor.
Für die Ansteuerung der Fahrmotore wurde eine Kurbel mit Totmannknopf verwendet. Diese Kurbel verfügte über fünf Stellungen, denen bestimmte Stufen des Schaltwerkes zugeordnet waren. Mittels dieser Schaltstufen wurde der Strom der einzelnen Fahrmotore gesteuert. Durch die Wahl einer Stellung des Fahrschalters steuerte der Triebfahrzeugführer die entsprechende Beschleunigung und Geschwindigkeit des Zuges.
Versuchszug E.
Die Anlieferung und der Einsatz
Infolge der späten Entscheidung über die zu verwendende Traktionsspannung konnten die beiden Firmengruppen den Herstellern der Wagen die elektrische Ausrüstung nicht liefern. Somit erfolgte die Auslieferung der Wagen noch ohne elektrische Ausrüstung. Bis zum Einbau der elektrischen Ausrüstung beförderte man diese Wagen mit Dampflokomotiven in einem Probebetrieb auf der Stadtbahn. 1924 baute das Reichsbahnausbesserungswerk Tempelhof die elektrische Ausrüstung ein. Bereits Ende Mai 1924 wurden die ersten Probefahrten aufgenommen, die auch der Ausbildung der Triebfahrzeugpersonale diente.
Die offizielle Inbetriebnahme des elektrischen Zugverkehres erfolgte ab dem 8. August 1924 auf der Strecke Stettiner Vorortbahnhof - Bernau (b Berlin). Die neuen elektrischen Züge fuhren erst einmal weiterhin in den Fahrplänen der Dampfzüge. Dieser 8. August gilt als der Geburtstag der Bahn, die wenige Jahre später als S-Bahn bezeichnet werden wird.
Alle Versuchszüge fuhren bis zur ihrer Ausmusterung im Jahre 1933/1934 auf den nördlichen Strecken zwischen Stettiner Vorortbahnhof und Bernau, Oranienburg bzw. Velten. Die für einen Eisenbahnbetrieb kurze Einsatzzeit von 10 Jahren (die legendären Stadtbahner brachten es auf über 70 Jahre) ist auf verschiedene Umstände zurückzuführen. So wiesen diese Züge unterschiedliche wagenbauliche Gestaltungen und Inneneinrichtungen auf. Das führte bei notwendigen Reparaturen zu langen und teuren Abstellzeiten, da die Teile der Züge untereinander nicht getauscht werden konnten.
Die Besonderheiten des Versuchzugs F (Jakobszug)
Der Versuchszug F wurde im Oktober 1922 in Auftrag gegeben, wobei zunächst nur zwei Wagen gebaut wurden. Diese beiden Wagen nahmen am 1. Juni 1923 den Probebetrieb auf, den sie zur vollen Zufriedenheit bestanden. Daraufhin wurden die restlichen Wagen fertig gestellt und am 17. August 1923 zur Erprobung an den Auftraggeber übergeben. Diese Probefahrten erfolgten zum Teil mit Geschwindigkeiten von über 100 km/h, ohne dass hinsichtlich der Laufeigenschaften Bemängelungen auftraten.
Gegenüber den anderen Versuchszügen war der Vollzug des Versuchszug F acht Tonnen leichter ausgefallen. Diesen Vorteilen standen jedoch betriebliche Nachteile gegenüber. Das Herauslösen eines einzelnen Wagens ist auf Grund der Konstruktion der Drehgestelle sehr aufwendig. Wurde ein Wagenteil aus dem Zugverband herausgenommen, musste immer ein Wagenende auf einem Notdrehgestell oder auf Notstützen gelagert werden. Zudem war es zur damaligen Zeit nicht möglich, in ein Jakobsdrehgestell Fahrmotore einzubauen. Auch aus diesem Grund hat man auf die weitere Verwendung solcher Drehgestelle bei den zukünftigen Wagen verzichtet.
Erst die im Jahre 1956 entwickelte BR 170 erhielt noch einmal Jakobsdrehgestelle.
Außer den beiden Prototyp-Halbzügen wurde diese Baureihe jedoch nicht weiter entwickelt.
Autor:
Michael Dittrich
Quellen:
Die ersten elektrischen S-Bahnwagen für Berlin; Hans-Joachim Hütter; Verkehrsgeschichtliche Blätter; Heft 3/1975
Die ersten elektrischen Versuchszüge für die Berliner S-Bahn; Hans-Joachim Hütter; Verkehrsgeschichtliche Blätter; Heft 4/1984
weiterführende Buchtipps:
Der elektrische Betrieb auf der Berliner S-Bahn (Band 1); Bernd Neddermeyer; Verlag Neddermeyer; 1999
Der Wagenpark der Berliner S-Bahn; Carl W. Schmiedeke; Lokrundschau Verlag Hamburg; 1997
letzte Änderung:
26. Oktober 2008
Veröffentlichung:
26. Oktober 2008