Pfeifen, Kommandostab und ZAT
Die Entwicklung der Zugabfertigung bei der Berliner S-Bahn


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Wie beschaulich war doch anfänglich das Reisen mit der Eisenbahn. Passagiere der am 21. September 1838 offiziell eröffneten Stammbahn konnten die knapp 14 Kilometer in 22 Minuten bewältigen. Für die anfänglichen zwei Zugpaare zwischen Zehlendorf und Potsdam erließ die Direktion der Berlin-Potsdamer Eisenbahn-Gesellschaft „auf höhere Anordnung“ u.a. folgende Abfahrregeln:

2) Der Eingang zu den Wagen ist dem Publikum bis 10 Minuten vor der zum Abgange bestimmten Stunde geschlossen. Um diese Zeit wird der Verschluß geöffnet, und dies durch einmaliges Läuten einer Glocke angedeutet. Es treten hierauf die mit einem Billet zur nächsten Fahrt versehenen Personen ein, und nehmen nach Anweisung der die Aufsicht führenden Wagenmeister und Wärter, ihre Plätze in den Wagen ein.
Nach 5 Minuten, also 5 Minuten vor dem Abgange, wird zum zweiten Male geläutet, um die etwa noch zurückgebliebenen Passagiere auf die Abfahrt aufmerksam zu machen.

3) Mit dem Schlage der zur Abfahrt bestimmten Stunde, wird zum dritten Male geläutet, und zugleich der zu den Wagen führende Eingang wieder geschlossen. Es wird alsdann Niemand weiter zum Mitfahren zugelassen. Die Wagenmeister und Wärter schließen die Thüren der Wagen, und nehmen ihre Plätze auf denselben ein. Der Wagenmeister giebt dem, den Dampf-Wagen führenden Maschinisten ein Zeichen, und der Zug setzt sich in Bewegung. [1]

Wie Sie lesen, herrschte damals ein strenges Reglement, also nichts mit Reinspringen in Züge, deren Türen sich schließen bzw. sich in der Abfahrt befinden. Hektik, mobile Kommunikations- und Audiogeräte waren noch nicht erfunden, und wer eine Reise machte, brauchte nicht nur einen Grund, sondern auch das nötige Kleingeld.

Mit den Eröffnungen weiterer Eisenbahnlinien wuchsen nicht nur die Städte, auch die Reisendenzahlen stiegen. Die Vorschriften der verschiedenen Eisenbahngesellschaften passten sich nach und nach den neuen Gegebenheiten an, so schrieb bspw. die Direktion der „Berlin-Hamburger Eisenbahn“ im Jahre 1856 zum Thema Abfertigung ihrem Personal folgendes vor:

§17 Der Zugführer giebt, sobald die Abfertigung des Zuges vollendet ist, dem Locomotivführer das Zeichen zur Abfahrt, läßt auch gleichzeitig die Signalschnur durch den Schluß habenden Schaffner bis zum Ertönen der Dampfpfeife anziehen. Das Ertönen der Dampfpfeife allein berechtigt den Locomotivführer noch nicht zur Abfahrt; er muß die Aufforderung zur Abfahrt vom Zugführer erhalten haben.

Während der Fahrt postirt derselbe einen Schaffner auf den ersten Wagen nach vorn gewendet, er selbst nimmt auf demselben Wagen, nach rückwärts gewendet, seinen Platz, um von da aus den Zug übersehen und beobachten zu können.

Die übrigen Schaffner vertheilt der Zugführer dergestalt, daß einer derselben auf dem letzten Wagen nach rückwärts, die übrigen auf anderen Wagen im Zuge zur Handhabung der Bremsen postirt werden. [2]

In den nachfolgenden Jahren wurde dieses und andere Abfahrverfahren ergänzt. Sobald der Aufsichtsbeamte des Bahnhofes die Erlaubnis zur Abfahrt an den Zugführer übermittelt hatte, pfiff dieser einen mäßig langen Ton, mit dem das Zugpersonal aufgefordert wurde, seine Plätze einzunehmen [3]. Hierzu sollte man wissen, dass damals neben dem Zugführer auch Ladeschaffner und Bremser mitfuhren; letztere waren für die Bedienung der Wagenbremsen verantwortlich, die ihnen das Lokpersonal mit entsprechenden Pfeifsignalen vorgab. Je nachdem welche Tonfolge der Lokführer mit der Dampfpfeife ertönen ließ, mussten die Bremser, die über die Wagen des Zuges verteilt waren, die Bremsen anlegen oder lösen. Erst die Einführung der selbsttätigen Bremsen ab dem Jahre 1869 machte diesen Tätigkeitszweig obsolet - auch wenn dies noch viele Jahre dauern sollte.

Bild: Bremser auf Wagen

Darstellung einer Zweiwagenbremse, die durch einen Bremser bedient wurde; entwickelt durch den Eisenbahningenieur J. George Hardy.
Entnommen: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens; von Röll; Dritter Band, Verlag Urban & Schwarzenberg; 1912

Zurück zur Abfertigung: Dem mäßig langen Pfeifton folgten, sofern der Zugabfahrt nichts mehr wie bspw. offene Türen entgegenstand, zwei mäßig lange Töne. Diese bedeuteten nun Abfahrt! Daraufhin setzte der Lokführer seine Maschine in Gang und los ging die Reise [3].

Mit der Inbetriebnahme der Berliner Stadtbahnstrecke am 7. Februar 1882 ging man von Anfang an einen anderen Weg. Für das damalige Berlin mit seinen mehr als 1,1 Millionen Einwohnern [4] war die neue Querverbindung ein großer Gewinn. Die dampfbetriebenen Züge waren mit Vacuumbremsen - und somit mit einer durchgehenden Bremsleitung - ausgestattet, die es den Lokomotivführern ermöglichten, die Züge „in kürzester Frist – etwa 20 Secunden – zum Stehen“ zu bringen [5]. Schon der erste Fahrplan vom Eröffnungstag zeigt eine große Zugdichte: Von fünf Uhr morgens bis um Mitternacht verkehrten die Züge im Zehnminutentakt über die Stadtbahn. Um diese Zugfolge zu ermöglichen, passte man das Abfertigungsverfahren an. Dazu schreibt [5]:

Das Oeffnen der der Coupéethüren bleibt den Passagieren selbst überlassen. Demzufolge wird bei jedem Zug ausser dem Locomotivpersonal nur noch ein Zugführer thätig sein, welcher auf die vorschriftsmässige Führung des Zuges zu achten und insbesondere auch für den rechtzeitigen Schluss der Thüren zu sorgen hat.

Das sonst übliche Signal mit einer Perronglocke wird nicht gegeben; vielmehr giebt der Zugführer, sobald die Abfahrtszeit eintritt, dem Locomotivführer nur durch zwei kurze Pfiffe mit der Mundpfeife das Zeichen zur Abfahrt, worauf der Zug sich sofort in Bewegung setzt.

Zwei Jahre nach der Inbetriebnahme der Stadtbahn zählte man im Jahre 1884 10.488.805 Fahrten, elf Jahre später - 1895 - hatte sich die Fahrtenanzahl mit 49.739.770 fast verfünffacht [6]. Das hohe Reisendenaufkommen veranlasste die Königliche Eisenbahndirektion Berlin im Jahre 1897 das Abfertigungsverfahren entsprechend abzuändern. Nicht mehr die Zugführer, sondern die „Bezirksaufsichtsbeamten“ der jeweiligen Stadtbahnhöfe gaben nun den Abfahrbefehl an den Lokführer. Dazu bewegte der Beamte seinen Arm senkrecht von oben nach unten und rief „Abfahren“, bei Dunkelheit wurde eine weiß abgeblendete Laterne geschwenkt [7].

Bis zum Jahre 1906 und darüber hinaus stiegen die Reisendenzahlen stetig an, nicht nur die Züge der Stadtbahn mussten verlängert werden. Die Berliner Eisenbahndirektion sah sich ab 1906 erneut gezwungen, die Abfertigungsregeln abzuändern, denn dem Lokomotivführer war es:

… oft nicht möglich, das Abfahrsignal zur rechten Zeit und deutlich zu erkennen, wie es im Interesse einer pünktlichen Abfahrt und Sicherheit des Betriebes unbedingt geboten ist. Zu gewissen Zeiten, z.B. an Wochentagen beim Beginn und nach Schluß des Arbeitsbetriebes oder an Sonntagen bei der Rückkehr der Ausflügler, herrscht auf den Bahnsteigen ein so großes Geräusch und Gedränge, daß es für den Stationsbeamten sehr schwierig ist, sich dem Lokomotivführer bei der Abgabe des Abfahrbefehls bemerkbar zu machen. Insbesondere kleineren Personen ist es oft unmöglich, mit der Hand oder der Laterne die zwischen ihnen und dem Lokomotivführer stehenden Menschen zu überragen. Hierzu kommt, daß bei dem Versuch, die Laterne möglichst hochzuheben, diese oft fast wagerecht gehalten wird, so daß dem Lokomotivführer ein unklares Bild erscheint.- Da auch der Ruf „Abfahren“ bei dem starken Geräusch auf den Bahnsteigen nur selten deutlich gehört wird, muß der Lokomotivführer oft die Wiederholung des Signals abwarten, was bei den vielen Stationen der Stadt- und Ringbahn ganz erhebliche Verspätungen zur Folge hat.

Um diesem Übelstande, der besonders bei starkem Verkehr und bei der Zugfolge von 2 1/2 Minuten große Störungen im Stadtbahnverkehr hervorruft, vorzubeugen, sind seit einigen Monaten Versuche mit besonderen Signalen ausgeführt, mit denen der Stationsbeamte den Befehl zur Abfahrt gibt. Am Tage sind dies 40 cm lange polierte Holzstäbe, die am oberen Ende eine weiße Scheibe mit schmalem grünen Rande von 18 cm Durchmesser tragen. Das Signal für die Dunkelheit ist eine mit gutem Scheinwerfer ausgerüstete Laterne, die bei jeder Bewegung in senkrechter Stellung stehen bleibt, weil sie in einem Bügel mit langem Handgriff schwebt und in Gelenken beweglich ist.

Die Versuche haben sich ausgezeichnet bewährt. Die Lokomotivführer begrüßen das neue Signal mit lebhafter Befriedigung, weil sie hierdurch ein klares, unzweideutiges Signal zur Abfahrt erhalten, das sie auch bei stärkstem Geräusch und Menschengedränge sofort und bestimmt wahrnehmen, so daß hierdurch die Abfertigung der Züge außerordentlich erleichtert und beschleunigt wird. Der Minister der öffentlichen Arbeiten hat daher genehmigt, daß der Befehl zur Abfahrt bei den obengenannten Zügen mit der vorbeschriebenen Scheibe und Laterne erteilt wird. [7]

Bild: undatierte Werbeanzeige

Undatierte Werbeanzeige für den Zugabfertigungsbedarf.

Zwei Jahre später vermeldete das Osthavelländische Kreisblatt, daß die Lokomotivführer Probleme beim Erkennen des weißen Lichtes hätten, da andere gleichfarbige Lampen und die vielen Fahrgäste eine einwandfreie Aufnahme des Signales erschwerten:

Es sind daher Versuche mit grün abgeblendeten Signallaternen angeordnet und mit den letzteren die Stationsbeamten der Berliner Nordringbahnhöfe Frankfurter, Landsberger, Prenzlauer, Schönhauser Allee, Gesundbrunnen usw. bis Jungfernheide ausgerüstet worden. Vom Ausfalle dieser auf mehrere Wochen bemessenen Versuche wird es abhängen, ob in der Farbe der Signallaternen eine Aenderung eintritt oder nicht. [8]

Ab welchem Zeitpunkt das grüne Abfahrsignal endgültig eingeführt wurde, konnte durch den Autor noch nicht genau ermittelt werden.

Bild: Auszug aus dem Signabuch 1935

Darstellung des Abfahrsignals
Entnommen: Signalbuch der Deutschen Reichsbahn; gültig vom 1. April 1935; Ausgabe 1950


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