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Mit Interesse habe ich den Internetauftritt zur Geschichte der Berliner S-Bahn gefunden und besuche diesen regelmäßig - einmal, weil es sehr interessante Informationen gibt und zum anderen, weil damit viele Erinnerungen aus Kindheit und Jugendzeit vor 1961 verbunden sind. Hier habe ich sehr vielschichtige Erfahrungen mit den damaligen Grenzbahnhöfen zwischen Ost und West. Hierzu möchte ich folgendes Erlebnis berichten:
Als ich mit Schokolade voll gestopft wurde
In Neuruppin wohnhaft verbrachte ich in den 1950er Jahren meine Schulferien regelmäßig bei meiner Großmutter in Borgsdorf. Sie wohnte dort als Rentnerin gemeinsam mit ihrer 70jährigen Schwester, die zum Kriegsende aus Pommern vertrieben worden war. Um überhaupt überleben zu können bei ihrer kärglichen Rente von knapp 80 Mark, waren sie darauf angewiesen sich in ihrem Garten selbst zu versorgen, sowie Hühner, Enten und Kaninchen zu halten. Im Winter wurde nur ein Zimmer geheizt, weil das Geld für die Kohlen fehlte, oft war deshalb die Wasserleitung eingefroren, die Rohre geplatzt und notdürftig repariert.
... aber, wenn ich zu Besuch kam, wurde ich trotzdem verwöhnt: Die Hühner gaben mindestens zehn Eier für einen Kuchen her, Butter und Zucker hatten sich die beiden für ihren Besuch vom Munde abgespart. Stets war auch etwas Süßes für mich vorbereitet: Sahnebonbons oder Schokolade - aber streng rationiert: pro Tag nur einen Bonbon und von der Schokolade wurden ein, wenn es hoch kam, zwei Stück abgebrochen, die ich mit Hochgenuss und Dankbarkeit vertilgte.
Im Berliner Umland gab es vor dem Mauerbau interessante Geschäftsideen durch private Handelsbeziehungen zwischen den Vororten und Westberlin. Um ihre Rente aufzubessern machte es meine Großmutter wie viele andere auch, sie packte sorgfältig ein paar Dutzend Hühnereier fein säuberlich in Zeitungspapier, verstaute diese in einer alten Einkaufstasche und machte sich mit der S-Bahn auf den Weg zu einem verwandten Einzelhändler in Westberlin, der einen kleinen Kellerladen in Schöneberg hatte.
Dieser war überaus erfreut über die frische Ware direkt vom Erzeuger, die ihm in der selben Stunde mit etwas Profit aus den Händen gerissen wurde. Großmutter bekam 20 Pfennige pro Ei (Westgeld), die sie an der nächsten Wechselstube eins zu fünf in Ostgeld umtauschte, was umgerechnet eine Ostmark pro Ei ergab, die sie zu Hause nie dafür bekommen hätte. So eine Fahrt machte sie etwa zweimal im Monat und konnte sich somit finanziell einigermaßen über Wasser halten. Ihr Enkel - also ich - profitierte davon (Zur Erinnerung: Butter, Zucker für Kuchen, winzige Mengen an Süßigkeiten, mit denen ich verwöhnt wurde).
Und erst jetzt komme ich zum eigentlichen Thema zurück:
Eines Tages nahm mich Großmutter mit auf ihre Verkaufstour. Mit meinen sieben oder acht Jahren war das natürlich immer ein tolles Erlebnis:
Erstens: Meine Lieblingsbeschäftigung S-Bahn-Fahren, zweitens Berlin besuchen und das drittens sogar in den Westteil der Stadt. Nebenbei gesagt kostete die einfache Fahrt damals teure(!) fünfzig Pfennige. Die größte Hürde bei dieser Unternehmung war der Bahnhof Hohen Neuendorf. Hier fand die Grenzkontrolle statt. Im Sprachgebrauch der S-Bahn-Nutzer war das der "Eierbahnhof" (die Fahrgäste wurden auf Schmuggelware kontrolliert, z.B. Eier, wie sie auch meine Großmutter dabei hatte) Bei dem einen Mal, von dem ich gerade berichte, hatten wir nun großes Pech. Die Grenzposten nahmen bei der Inspektion meiner Großmutter den Ausweis weg und befahlen uns sofort auszusteigen und ins Grenzbüro zu gehen. Die Mitreisenden setzten in diesem Fall immer ein äußerst unbeteiligtes Gesicht auf - Schadenfreude war in diesem Fall unangebracht, man hätte ja selbst in so eine missliche Lage kommen können und wer weiß, wer da noch im Wagen saß und einen "verpfeifen" konnte.
Wir beiden machten uns nun voller Unruhe auf den Weg die Bahnhofstreppe hoch in das befohlene Büro. Hier saßen bereits einige Leute, die ebenfalls kontrolliert werden sollten. Teils waren sie auf dem Weg wie wir nach Westberlin oder schon auf der Rückreise. So saßen wir nun, wir Kleinkriminellen und harrten der Dinge, die da kommen mussten. Mir gegenüber saß eine ältere Dame und flüsterte uns zu, dass sie aus Westberlin für ihre Enkel Schokolade und andere Sachen mit sich führt. Kurz entschlossen griff sie in ihre Tasche, holte zwei Tafeln Schokolade hervor, machte die Umhüllung ab und flehte mich an, diese sofort zu essen, denn: "Die nehmen sie mir bei der Durchsuchung gleich weg und wer weiß, wer sich die einverleibt - Jungelchen, iss sie sofort auf!" zu mir. Fragende Blicke zu Großmutter, diese nickte: "Iss nur, iss!" Zwei, drei Bisse gingen noch genussvoll ihren Weg, der vierte fiel mir schwer und den Rest musste ich mir regelrecht hineinquälen, ich, der ich doch sonst nur ein winziges Stück essen durfte, saß nun da und stopfte im Schweiße meines Angesichts die Köstlichkeit hinunter. Ich weiß heute nicht mehr, wie lange danach ich keine Schokolade essen wollte, von den Problemen der Verdauung gar nicht zu reden.
Großmutter wurde dann nach gewisser Zeit verhört, was sie denn mit den vielen Eiern machen wolle. "Die schaffe ich zu meinem Neffen, der baut mit an der Stalinallee." Da hätte zu dieser Zeit jeder Grenzer darauf reinfallen müssen, aber man glaubte ihr nicht. Sie durfte alles wieder einpacken mit dem Befehl sofort wieder nach Hause zurück zu fahren. So bewegten wir uns wieder die Bahnhofstreppe hinunter um in den befohlenen Zug Richtung Oranienburg zu steigen. Zufälligerweise standen aber Züge in beiden Richtungen am Bahnsteig. Der in Richtung Frohnau war schon kontrolliert und sollte abfahren. Meine Großmutter nahm mich an die Hand und war mit wenigen Schritten im verbotenen Zug - letzte Tür, Traglastenabteil. Zwei Plätze waren noch frei: schnell setzten wir uns. Wenige Sekunden später riss ein Grenzer die Tür auf: "Sind hier eben eine alte Frau und ein kleiner Junge eingestiegen?" Alle Fahrgäste schauten demonstrativ in die Runde und schüttelten ihre Köpfe. Nun wollte das der Grenzer genauer kontrollieren, in dem Moment wurden jedoch die Türen geschlossen, der Zug fuhr los. Mit Anstrengung riss der Grenzer doch wieder die Tür auf und sprang zurück auf den Bahnsteig, sonst wäre er womöglich noch entführt worden.
Die Rückfahrt verlief später ohne Schwierigkeiten, denn Großmutter konnte sich etwa ausrechnen, wann die Grenzer Schichtwechsel hatten und wir nicht wieder erkannt werden konnten.
Nebenbei gesagt hieß so ein Grenzbahnhof wie damals Hohen Neuendorf oder Stolpe Süd im Volksmund auch "Schillerbahnhof". Die spöttische Begründung für diesen Namen war: "Dort spielen sie jeden Tag -die Räuber-". Großmutter nannte die Grenzer immer nur "Taschenkieker" und meinte, so einen Beruf müsste ich später auch lernen, dann hätte ich nicht viel zu tun und könnte den Leuten in die Taschen kieken und rausnehmen, was mir gefällt.
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Autor:
Hans-Peter Krohn
letzte Änderung:
7. Dezember 2012
Veröffentlichung:
7. Dezember 2012