Der S-Bahnzug im Bahnhof Neukölln


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Der Eisenbahner Horst Witte, Jahrgang 1927, arbeitete 1949 als Fahrdienstleiter und Aufsicht auf dem Bahnhof Neukölln. Er erinnert sich:

Den auf dem Bahnhof Neukölln Gleis 4 (Richtung Ostkreuz) stehenden Halbzug versuchte man mehrmals zurück in den Ostsektor zu holen. Das erste Mal war am 21. Mai, dem Tag des Streikbeginns, vom Bahnhof Treptower Park, Stellwerk Tw aus. Abgefahren werden sollte der Zug mit einer Lok der Baureihe 52, die dazu extra eine Scharfenbergkupplung bekommen hatte.

Streikende der Bahnmeisterei Neukölln (BM 101) hatten aber ein Schienenpaßstück vor der Weiche 16 entfernt und das Gleis mit Signal Sh 4, Sh 3 und Sh 2 gesichert. Als die Lok die zweite Knallkapsel (Signal Sh 4) überfahren hatte, fuhr sie nach Treptower Park zurück. Eine Reporterin der Ostberliner Zeitung "Berliner Zeitung" beobachtete das ganze Spektakel und ließ sich von mir die Umstände und das Drumherum erklären. Am nächsten Tag schrieb diese Zeitung: "UGO Banditen haben Sprengkörper auf die Gleise gelegt.".

Bild: Gleisplan Neukölln von 1962

Gleisplan des Bahnhofes Neukölln aus dem Jahre 1962. Der S-Bahnhof Hermannstraße gehört betrieblich zum Bahnhof Neukölln.
Legende: roter Pfeil: Stellwerk Not; gelber Pfeil: Weiche 16; grün markiert: Gleis 30; grüner Pfeil: Abstellort der Lok.

Ein zweiter Versuch erfolgte in der Nacht des 23. zum 24. Mai. Ein Zug mit bewaffneten Kräften nahte auf dem Gütergleis dem Stellbezirk Not. Aus diesem Zug wurde das Feuer auf uns eröffnet. Wir schossen zurück - mit Steinen! Dabei gingen die Scheiben des S-Bahnzuges zu Bruch. Der Zug musste unverrichteter Dinge wieder zurück.
Der dritte Versuch erfolgte am 26. Mai (Himmelfahrtstag). Ein Bauzug mit einem sowjetischen Zugkommandanten kam auf dem Gütergleis angefahren. Die Besatzung des Bauzuges war ausgehungert und tagelang im Einsatz. Die Bauarbeiter blieben vorerst in Westberlin, sie wurden zum Polizeipräsidium in der Erkstraße gefahren und verpflegt. Die Streikwache im Stellwerk Not legte nach Einfahrt des Zuges die Weichen in Richtung Abstellgleis 9. Der Bauzug mit der Lok der Baureihe 52 wurde gekapert und später auf Gleis 30 im Güterbahnhof unter der Hertabrücke abgestellt. Der sowjetische Zugkommandant musste zu Fuß in den Ostsektor zurück laufen.

Der RIAS rief die Berliner Bevölkerung auf, Essen zu spenden. Dieses konnten wir dann im Polizeipräsidium in der Erkstraße entgegennehmen.
Nach dem Ende des Streikes erfolgte von seitens der Reichsbahn eine Kündigungswelle. Auch ich sollte entlassen werden. Da meine Kündigungsfrist vier Wochen betrug, erhob ich mit anderen eine Sammelklage gegen die Kündigung. Die Reichsbahn nahm, auch aufgrund ihrer Zusagen, die Kündigungen wieder zurück. So konnte ich meinen Dienst als Fahrdienstleiter fortsetzen. Trotzdem muß ich einigen Leuten ein Dorn im Auge gewesen sein. Man kommandierte mich am 9. Dezember 1949 zum Verschiebebahnhof Tempelhof als Schlußschaffner im Güterzugbegleitdienst ab. Ausgestattet mit einer Schlußlaterne und -scheibe (Signal Zg3), einer Signalflagge und einer Karbidlampe versah ich in vier Nummern zu großen Filzstiefeln sowie mit einem Schaffnerkittel versehen, bis zum Mai 1950, diesen sogenannten "Notdiensteinsatz". Erst danach durfte ich wieder als Fahrdienstleiter arbeiten.

Langsam kehrte wieder die Normalität in den Betriebsalltag ein, die einzelnen Eisenbahn-Dienststellen nahmen wieder ihre gewohnten Arbeiten auf. So u.a. die BM 101: Sie begann mit ihren planmäßigen Instandhaltungsmaßnahmen. Da in der Nachkriegszeit neue Weichen Mangelware waren, wurden die ausgefahrenen Herzstücke mittels Auftragsschweißungen repariert. Bei einer dieser Arbeiten wurden die Arbeiter fotografiert. Das Bild erschien in der Eisenbahnerzeitschrift "Fahrt Frei" mit der Bildunterschrift: "Fleißige Arbeiter reparieren Schäden des UGO-Putsches."


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letzte Änderung:
21. August 2009

Veröffentlichung:
21. August 2009

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