Als 1927 die Firmen Orenstein & Koppel AG Berlin und die Waggon- und Maschinenbau AG Görlitz je zwei Prototyp-Viertelzüge der späteren Baureihe 165 bauten, ahnte keiner der Beteiligten, daß diese Fahrzeuge offiziell erst nach sieben Jahrzehnten wieder aus dem aktiven Betriebsdienst ausscheiden würden. Es wurden nach den Prototypen drei Lieferserien der legendären Stadtbahner beschafft:
Prototypen | ||||
Bauart | Baujahr | Triebwagen | Steuerwagen | Beiwagen |
1927 | 1927 | 4 | 4 | - |
Serie | ||||
1928 | 1928/29 | 404 | 376 | - |
1929 | 1929 | 160 | 85 | 80 |
1930 | 1930/31 | 70 | - | 93 |
gesamt | 638 | 465 | 173 | |
insgesamt: | 1276 Fahrzeuge |
Somit standen 1276 Stadtbahner (ohne Prototypen 1268 Fahrzeuge) zur Verfügung, dieses galt jahrzehntelang als die größte Serie elektrischer Triebwagenzüge, die nach einheitlichen Merkmalen entwickelt und gebaut wurde.
Aufgrund der Elektrisierung der Wannseebahn in den Jahren 1932 und 1933 wurden wegen des zusätzlichen Bedarfs erneut bei der Industrie entsprechende Fahrzeuge geordert. Diese Viertelzüge, die als Bauart Wannseebahn in die Geschichte eingingen, unterschieden sich von den vorherigen Fahrzeugen in den folgenden Punkten (Auswahl):
Es wurden beschafft:
Wannseebahner | Bauart | Baujahr | Triebwagen | Steuerwagen | Beiwagen | 1932 | 1932/33 | 49 | - | 49 | 1932a | 1933 | 2 | - | 2 | Stadtbahner | 638 | 465 | 173 | Wannseebahner | 51 | - | 51 | gesamt: | 689 | 465 | 224 | insgesamt: | 1378 Fahrzeuge |
Die beiden zuletzt beschafften Viertelzüge der Bauart 1932a leiteten in ihren Konstruktionsmerkmalen schon auf die späteren Bauarten 1934, 1935a, 1936 sowie 1938 bis 1941 über. Schlußendlich standen im Jahr 1933 1.378 Fahrzeuge der ab 1942 in die Baureihe 165 umgezeichneten Triebwagen zur Verfügung.
Der Wagenpark lichtet sich
Im Zweiten Weltkrieg erlitt die nunmehrige Baureihe 165 von allen Baureihen den höchsten Verlust: Unmittelbar zum Kriegsende zählte man noch 643 Viertelzüge (1286 Fahrzeuge) in Berlin. Von diesen Fahrzeugen war rund ein Drittel aufgrund ihrer Zerstörungen nicht betriebsfähig [1], bis Ostern 1946 dezimierte sich der Fahrzeugbestand durch Reparationsleistungen an die Sowjetunion. Die Reparatur kriegsbeschädigter Fahrzeuge war bis 1954 beendet, bis 1963 wurden alle von der Sowjetunion als Reparationsleistung eingezogenen Fahrzeuge (61 Viertelzüge) zurückgegeben [2].
Für die U-Bahn-Baureihe EIII wurden in den Jahren 1965 bis 1990 insgesamt 53 Viertelzüge der Baureihe 165 bzw. der späteren Baureihe 275 als Spenderfahrzeuge herangezogen [3]:
U-Bahnbaureihe | Anzahl Viertelzüge | Auslieferung |
EIII/1 | 3 | 1965 |
EIII/2 | - | - |
EIII/3 | 4 | 1972/73 |
EIII/4 | 5 | 1974/75 |
EIII/5 | 41 | 1986-90 |
gesamt | 53 |
Von diesen Fahrzeugen sind heute nur noch vier Fahrzeuge betriebsfähig erhalten und werden bei Sonderfahrten des Vereines Arbeitsgemeinschaft Berliner U-Bahn e.V. eingesetzt.
Der Bestand der Fahrzeugflotte der BR 275 entwickelte sich in den nachfolgenden Jahren wie folgt (Ost- und Westberlin gesamt) [4; 5; 6; 7]. Der starke Fahrzeugschwund ab Ende der 1970er Jahre erklärt sich dadurch, daß viele Viertelzüge der BR 275 in das Rekonstruktionsprogramm zur Baureihe 276.1 kamen:
1961 | 471 Vz | 1970 | 463 Vz | 1975 | 446 Vz |
1980 | 376 Vz | 1985 | 225 Vz | 1990 | 190 Vz |
1995 | 89 Vz | 8/1997 | 60 Vz | 11/1997 | 30 Vz |
Die Verabschiedung
Der Viertelzug 475 602 erhielt im März 1997 als letzter seiner Baureihe eine planmäßige Hauptuntersuchung. Kurz vor ihren Einsatzende verkehrten die 475er hauptsächlich der damaligen S-Bahnlinie 10 (Birkenwerder—Spindlersfeld) sowie auf den S-Bahnlinien der Stadtbahn.
Wie bedankt man sich bei einer Legende?
Am besten mit einer auch heute noch denkwürdigen Veranstaltung. Der Betreiber der S-Bahn, die S-Bahn Berlin GmbH, verabschiedete die Fahrzeuge mit einer Sternfahrt zum Bahnhof Ostkreuz. Am Gleis 3 des Bahnsteiges A stand von 10 bis 14 Uhr ein Halbzug als "475er-Shop" bereit. Mit viel Vorbereitung und Präzision kamen die geschmückten und morgens auch erst eingesetzten Fahrzeuge für diesen besonderen Moment zwischen 12.53 Uhr und 12.57 Uhr im wichtigsten Umsteigebahnhof der S-Bahn an; somit waren alle acht verfügbaren Bahnsteigkanten zur selben Zeit mit den Stadtbahnern belegt.
Sonderzug | Umlauf | kommt von | Ankunft | Bahnsteig | Viertelzüge | Abfahrt | Endbahnhof |
1 | S3/50 | Erkner | 12.57 Uhr | E | 475 605 + 033 + 005 | 13.02 Uhr | Charlottenburg |
3 | S3/6 | Hauptbahnhof | 12.56 Uhr | E | 475 051 + 609 + 611 + 049 | 13.02 Uhr | Erkner |
4 | S4/12-62 | Schönhauser Allee | 12.55 Uhr | F | 475 044 + 614 + 094 + 031 | 13.02 Uhr | Westend |
5 | S5/9 | Charlottenburg | 12.55 Uhr | D | 475 043 + 080 + 612 | 13.02 Uhr | Lichtenberg |
6 | S6/50 | Grünau | 12:53 Uhr | A | 475 076 + 079 | 13.02 Uhr | Warschauer Straße |
7 | S7/50 | Ahrensfelde | 12.57 Uhr | D | 475 055 + 040 + 608 + 086 | 13.02 Uhr | Charlottenburg |
8 | S8/50 | Grünau | 12.57 Uhr | F | 475 032 + 604 + 034 | 13.02 Uhr | Pankow |
2 | S86/1 | Warschauer Straße | 10.00 Uhr | A | 475 075 + 084 | 14.02 Uhr | Greifswalder Straße |
Während nun Tausende Berliner, Brandenburger und Besucher die Bahnsteige bevölkerten, moderierte ein Sprecher der S-Bahn den Abschied von den Zügen. Pünktlich um 13.02 Uhr bekamen alle sieben Züge (außer Sonderzug 2) ihren Abfahrauftrag und setzten sich wieder in Bewegung (Fahrziele siehe Tabelle, Tabelle nach [8; 9]).
Je nach Fahrplanlage wurden die Sonderzüge gegen Züge anderer Baureihen ausgetauscht, die nächste Zugfahrt führte sie meist in die Hauptwerkstatt Schöneweide, in der sie für die teilweise bevorstehende Verschrottung gesammelt wurden. Der allerletzte Fahrgastzug war der Sonderzug 1, der von Greifswalder Straße kommend via Südring nach Charlottenburg verkehrte; dort traf er um 15.34 Uhr mit zwölf Minuten Verspätung am Bahnsteig C ein. Wenige Minuten später wurde die Inneneinrichtung des sich im Zug befindlichen 475/875 033 versteigert. Nach dem Ende der Versteigerung überführte man den Zug operativ in die Abstellanlage Hundekehle am S-Bahnhof Grunewald.
Nicht zu vergessen an jenem Tage: Auch der Weihnachtszug (ET/ES 165 231 + ET/EB 165 471 + 3662/6121 + 275 959/954) drehte fleissig seine Runden.
Am 5. Dezember 1997 wurde im sächsischen Espenhain der 475 048 sowie dessen Beiwagen verschrottet.
Der Viertelzug, Baujahr 1928, stand 1945 im überfluteten Nordsüd-S-Bahntunnel. Nach seiner Wiederaufarbeitung fuhr er noch viele hundertausende Kilometer, meist in Westberlin. Am 9. Januar 1984 ging er in den Fahrzeugbestand der BVG über. Von 1980 bis zu seiner Ausmusterung am 13. August 1997 blieb das Fahrzeug dem S-Bw Wannsee zugeordnet.
Somit endete nach über 70 Jahren der Einsatz von Wagen der Bauart Stadtbahn bei der Berliner S-Bahn. Wenn eine Baureihe fast ein Menschenalter lang das Gesicht einer Stadt prägte und die Einwohner entsprechend auf ihren Wegen begleitete, dann ist es nicht vermessen zu sagen, daß an diesem Tage eine Legende endete. Aber war dieser Tag das Ende der Stadtbahner? Aus fahrzeugtechnischer Sicht ja, aber es gab an diesem 21. Dezember 1997 immer noch knapp 200 modernisierte Viertelzüge, die als BR 476.0 und 476.3 liefen. Zweieinhalb Jahre später, am 27. Mai 2000, waren aber auch diese von den Gleisen verschwunden.
Weiterführende Links auf Stadtschnellbahn-Berlin.de
Bildergalerie zur Sternfahrt der BR 475 am 21. Dezember 1997
Nicht viele Viertelzüge, einzelne Wagen bzw. Bestandteile der Fahrzeuge sind der Verschottung entgangen. Hier eine unvollständige Auflistung der Überlebenden, die nach und nach ergänzt werden soll:
Fahrzeugnummer | verkauft am/im | verkauft an | Bilder |
275 529 | November 1992 | privat | Link |
875 003 | privat | Link |
Autor:
Mike Straschewski
Quellen:
[1] Die Berliner S-Bahn im Jahre 1945; Gerhard Krienitz; Elektrische Bahnen; Heft 6/1950
[2] Die Wiederaufarbeitung der beschädigten Berliner -S-Bahn-Wagen nach 1945; Hans-Joachim Hütter; Verkehrsgeschichtliche Blätter; Heft 5/2003
[3] Die Fahrzeuge der Berliner U-Bahn Typ E; Andreas Biedl/Norbert Walter; Verlag Neddermeyer; 2001
[4] Datenerhebung 1961 (Stand 30.4.1961) entnommen aus: Das blaue Wunder; Mario Walinowski; Verlag GVE; 2005
[5] Datenerhebung der Jahre 1970, 1975, 1980 und 1980: Die DR vor 25 Jahren, EK-Verlag; EK-Themenhefte 20, 34, 40 und 46
[6] Datenerhebung 1990 (Stand 30.6.1990): DR-Fahrzeug-Lexikon 1990, EK-Verlag
[7] Datenerhebung 1995 und 1997: Berliner Verkehrsblätter, Kurzmeldungen in den Heften 10/1997 und 12/1997
[8] Daten nach Fahrplananordnung 959; S-Bahn Berlin GmbH, gültig am 21. Dezember 1997
[9] BR 475: Sternfahrt nach Ostkreuz; Jürgen Meyer-Kronthaler; Berliner Verkehrsblätter; Heft 2/1998
Videotipps auf Youtube:
Verabschiedung der BR 475
Historische Fahrt auf der S-Bahnlinie10
letzte Änderung:
21. Dezember 2012
Veröffentlichung:
21. Dezember 2012