Im Jahre 1971 setzte das Ministerium für Verkehr der DDR ein Programm zur zukünftigen Entwicklung des Fahrzeugparks der Berliner S-Bahn auf. Darin wurde die Beschaffung von Neubaufahrzeugen sowie die Modernisierung eines Teils der vorhandenen Altbaufahrzeuge festgelegt. Die BR 275 wäre hierbei ausgemustert und durch über 600 Viertelzüge der BR 270 (spätere BR 485) ersetzt wurden. Interessanterweise vermerkt hier der Artikel die Beschaffung der BR 270 als "ET + EB/ES" [1].
Mitte der 1970er Jahre hatte die Entwicklung neuer Fahrzeuge einen Stand erreicht, der eine weitere konkrete Gestaltung des vorhandenen und zukünftigen Wagenparks ermöglichte. Zudem beeinflussten weitere Punkte eine Überarbeitung des Programms:
Diese Maßnahmen erforderten eine höhere Zahl von Viertelzügen als bisher geplant. Nach den Vorgaben des Originalprogramms konnte der nun konstantierte erhöhte Fahrzeugbedarf nicht mit Neubaufahrzeugen gedeckt werden, da die volkseigene Schienenfahrzeugindustrie mit entsprechenden Bauaufträgen für das In- und Ausland ausgelastet war. Somit wurde von den beteiligten Dienststellen ein Zusatzprogramm zur Modernisierung der BR 275 entwickelt und durch das Ministerium für Verkehr bestätigt. Als Grundlage dieses Zusatzprogramms galt die bereits zuvor durchgeführte Modernisierung der Baureihen 276.0 und 277. Im Gegensatz zur Baureihe 277 wurden für die Baureihe 275 keine neuen Drehgestelle beschafft, sondern deren vorhandenen weiterverwendet. Auch wurden nur Viertelzüge umgebaut, deren Zustand erhaltungswürdig und auf denen bereits Funk und Sifa (für den Einmannbetrieb) vorhanden war.
Fahrzeuge, die nicht für den Einmannbetrieb umgerüstet waren (Paßviertelzüge) und Züge, die nicht für eine Modernisierung in Frage kamen, sollten bis zur ihrer Ausmusterung betriebsfähig erhalten bleiben.
Der erste modernisierte Zug (276 101) der Baureihe 276.1, hier noch mit seiner alten Fahrzeugnummer 275 341, auf dem Gelände des RAW Schöneweide (1979).
Veränderungen am Wagenkasten
Um eine bessere Sicht für den Triebfahrzeugführer zu erreichen, wurden die dreiteiligen Fenster durch zwei große Führerstandsfenster ersetzt. Dazu musste die vorhandene eckige Kopfform des Zuges verändert werden. Als Grundlage dazu dienten die Erfahrungen der bereits durch das Reichsbahnausbessungswerk (Raw) Schöneweide gebauten U-Bahnwagen vom Typ EIII.
Im vorhandenen Bereich des Kopfträgers wurden horizontale Bleche angebracht, die der neuen Kopfform der Triebwagen angepasst waren. Auf ihnen schweißte man die Säulen, die später mit Blechen verkleidet wurden, und sonstige Streben an.
Eine besondere Kennzeichnung dieser Wagen war die um die vertikale Achse gedrehte leicht gewölbte Stirnwand, die abgerundeten Ecksäulen und die herabgesetzte Fensterunterkante der Stirn- und Seitenfenster des Führerstandes. Im Bereich der Stirnwandfenster wurde auf eine Neigung wie bei der Baureihe 277 verzichtet. Die seitlichen Führerstandsfenster waren weiterhin als Fallfenster ausgelegt. Die Fenster der Fahrgasträume dagegen sind durch feststehende Fenster mit einer Fensterklappe im oberen Teil ersetzt worden.
Neu wurden nun an jeder Einstiegstür rote Warnleuchten angebracht, die das bevorstehende Schließen der Türen ankündigten. Ursprünglich war vorgesehen, die Raumaufteilung der ehemaligen Steuerwagen der Baureihe 275 nicht zu verändern. Bereits während der Modernisierung gab es jedoch Überlegungen, diese Fahrzeuge den Beiwagen anzupassen und damit vier Sitzplätze zu gewinnen. Ab dem 24. Viertelzug begradigte man die Front und erhielt dadurch die vorausberechneten vier Sitzplätze. Einen nachträglichen Umbau der bereits modernisierten Züge wurde aus Kostengründen nicht durchgeführt. Das in den Beiwagen befindliche Rückfenster baute man bei der Modernisierung nicht wieder ein, das Fenster wurde jeweils mittels Blechen verschlossen.
Frontansichten der BR 276.1 und der U-Bahnbaureihe EIII/5.
Gut erkennbar die gleiche, leicht gewölbte Sirnfront mit den Führerstandsfenstern (undatiert).
Änderungen an der Betriebskupplung ...
Die Baureihe 275 verfügte zum Kuppeln der elektrischen Verbindung über eine Stecker-Dosen-Kupplung, die zwölf Kupplungspunkte besaß. Da bei den modernisierten Fahrzeugen aber 18 Kupplungspunkte benötigt wurden, musste hier eine neue Konzeption eingeführt werden. Ein Umbau der bestehenden Kupplung war wegen des geringen Platzes und der Spannungsfestigkeit nicht möglich. Somit wurde analog der Baureihe 277 oberhalb des mechanischen Kuppelkopfes eine Kontaktkupplung angeordnet. Dazu mussten am Kuppelkopf der vorhandenen Kupplung die Ösen zur Aufnahme der Kontaktkupplung angeschweißt werden.
Nach dem mechanischen Verbinden zweier Viertelzüge konnte nun mittels eines Hebels die elektrische Verbindung hergestellt werden. Somit war zwar keine automatische Lösung wie bei der Baureihe 277 geschaffen worden, der Umbau im Untergestell wäre zu kostenintensiv gewesen. Trotzdem war das für das Rangier- und Triebfahrzeugpersonal eine wesentliche Arbeitserleichterung, da das Hantieren mit der unhandlichen Stecker-Dosen-Kupplung entfiel.
... im Fahrgastraum ...
Die Wände in den Fahrgasträumen versah man nun mit hellen Sprelacartplatten. Das Traglasten- bzw. Dienstabteil der Triebwagen wurde verkleinert, die Verbindungswand weiter zurückversetzt. Die Drehtür ersetzte man durch eine Schiebetür, die nun auch im geöffneten Zustand verschlossen werden konnte. In dem Traglasten- bzw. Dienstabteil wurde wie zuvor auch eine Längsbank auf beiden Seiten angeordnet. Sie bot Platz für maximal 3 Personen pro Seite. Alle Sitzbänke waren mit blaugrauen Sitzpolstern, die aus Schaumgummi bestanden, versehen. Die Innenbeleuchtung wurde durch Leuchtstoffröhren ersetzt, in der die Notbeleuchtung mit integriert war. Über den Einstiegstüren befanden sich, wie auch außen, rote Warnlampen. Zur akustischen Warnung verwendete die Deutsche Reichsbahn einfache Klingeln. Von Juli 1984 an wurden die Wände mit einem dunkleren Sprelacart versehen und die Sitzpolster erhielten braune Bezüge aus Kunstleder.
Ab Mai 1988 installierte die DR in die Züge eine Beschallungsanlage. Über diese konnte der Triebfahrzeugführer Informationen, wie z.B. die nächste Haltestelle, durchgeben. Die Abfahrtsklingel wurde durch das neue Drei-Ton-Signal ersetzt - auch diese Klangfolge kam aus den Lautsprechern.
... sowie der Bremsanlage
1987 wurden erstmals Viertelzüge mit einer neuen Bremsanlage ausgerüstet. Hatten die Züge zuvor eine einlösige Bremse, wurde nun eine mehrlösige Bremse installiert (Knorr-Einheits-Bremse, kurz KE). Diese Viertelzüge mit den Nummern 276 513/514 bis 276 523/524 wurden gleichzeitig mit einer 110-Volt-Zugsteuerung ausgestattet. Sie durften ab sofort nicht mehr mit den anderen Viertelzügen elektrisch gekuppelt werden. Bis Anfang 1993 wurden insgesamt 79 Viertelzüge mit KE-Bremse und der 110-Volt-Zugsteuerung ausgerüstet.
Charakterköpfe im S-Bahnbetriebswerk Friedrichsfelde (von vorn nach hinten):
ein Peenemünder - 276 076 - noch mit dreigeteilter Stirnwand
276 299 - gut erkennbar die flache Stirnfront gegenüber der abgeschrägten Front des 277mod
an dritter Stelle dann der 275 281. Im Hintergrund das Verwaltungsgebäude des S-Bw (undatiert).
Die Umbenennung in Baureihe 276.1
Nach der Modernisierung war ein freizügiges Kuppeln der Züge der BR 275 untereinander aufgrund der technischen Inkompabilität nicht mehr möglich. Um die Handhabung der Züge für Triebfahrzeugführer und Disponenten zu erleichtern, sah die DR nun eine Umzeichnung vor. Bei der Fertigstellung der ersten Viertelzüge hatte sie noch keine Baureihenbezeichnung festgelegt. Eine ursprüngliche geplante Zuweisung zur Baureihe 274 wurde verworfen, deswegen behielten die ersten Viertelzüge ihre alte Wagennummer. Ab Juli 1979 wurden die Fahrzeuge dann in die Baureihe 276.1 umgezeichnet. Dabei wurden die Nummern in der Reihenfolge der Modernisierung vergeben. Der erste Viertelzug (275 341/794) erhielt die neue Nummer 276 101/102.
Wie seit 1970 üblich versah die DR die Triebwagen mit ungeraden und die Beiwagen mit den geraden Nummern.
Im Jahre 1992 erfolgte eine erneute Umzeichnung der Baureihen: die Baureihe 276.1 wurde in 476.3 (Triebwagen) und 876.3 (Beiwagen) umgezeichnet. Für die Viertelzüge mit KE-Bremse legte man die Baureihenbezeichnung 476.0 (Triebwagen) und 876.0 (Beiwagen) fest.
Die Berliner S-Bahn hat schon immer Groß und Klein fasziniert:
Führerstandsbesuch im 276 197-1, der als Konrad 9 im Bahnhof Schöneweide steht (undatiert).
Umbauten, Unfälle und Ausmusterungen
Einzelne Viertelzüge der BR 276.1/476 dienten zeitweilig als Versuchsträger: der Triebwagen 276 515 wurde Anfang 1990 versuchsweise mit einem Pragotron-Faltblattanzeiger ausgerüstet [2], dieser wurde im September 1990 wieder ausgebaut, da er sich als zu störanfällig erwies [3]. Später wurden in einigen Viertelzügen Rollbänder der Firma Krüger eingebaut. Dies betraf sowohl die Fahrzielanzeiger als auch die Anzeiger für die Zuggruppen und Umlaufnummern. Diese Bänder wurden wegen Änderungen im Anzeigekonzept mehrmals ausgetauscht und verändert. [4]
Ab April 1991 wurden bei allen Zügen, die zu einer Hauptuntersuchung im Raw Schöneweide weilten, die Trennwände zwischen Fahrgastraum und Traglastenabteil ausgebaut. Ab Januar 1992 erfolgte der Ausbau dann bei jedem dortigem Aufenthalt. [5] Die bei der Modernisierung ausgebauten Fenster in den Rückwänden der Trieb- und Beiwagen baute die DR aus Gründen der Fahrgastsicherheit (Durchblick von einem in den anderen Wagen) ab April 1992 wieder ein - der erste Zug war 476/876 003. Bei den Beiwagen, die aus ehemaligen Steuerwagen entstanden waren, war der Einbau nur auf der Kupplungsseite zum Triebwagen hin möglich. [6]
Als erster Viertelzug der BR 276.1 wurde der 476/876 444 am 26. Mai 1992 ausgemustert, seine Verschrottung erfolgte im Juli 1992 im Raw Schöneweide.
Am 25. April 1993 brannte in der Kehranlage Karlshorst der Triebwagen 476 403 vollständig aus. Als Ersatz baute das Raw Schöneweide noch einmal einen Triebwagen der Baureihe 475 (475 158) um, der die Nummer 476 403 (II) bekam. [7] Es war der letzte Umbau dieser Art überhaupt. Aufgrund einiger Unfälle mit Fahrgästen, die natürlich eine teilweise negative Berichterstattung nach sich zogen, wies das Eisenbahnbundesamt (EBA) an, alle Altbaufahrzeuge bis zum 31. Dezember 1997 [8] mit einem Türdauerverschluß nachzurüsten. Auch dem stark angestiegenen Vandalismus versuchte man entgegenzuwirken: der Viertelzug 476/876 379 erhielt im Sommer 1995 während einer Überholung im Raw Schöneweide versuchsweise wieder Holzsitze. [9]
In der Silvesternacht 1995/1996 brannte auf dem Bahnhof Ahrensfelde der Beiwagen 876 375 aus. Der Wagen wurde nicht wieder aufgearbeitet und verschrottet, der dadurch übrig gebliebene Triebwagen 476 375 wurde zu einem Teil eines Gleisstaubsaugers umgebaut. [10].
Und noch eine Umrüstung: Seit Sommer 1997 wurden alle Fahrzeuge mit Ausnahme des 476/876 379 (er besaß Holzsitze) mit Feuerlöschern im Fahrgastraum ausgerüstet. Dafür wurde ein Heizkörper entfernt und durch ein Gehäuse mit verplombter Klappe ersetzt. [11]
Im Hauptstadtlack: 276 155-9.
Der Plasteüberzug auf der elektrischen Kupplung (S-Bahner-Jargon: Kondom) schützte ebendiese vor dem Eindringen von Feuchtigkeit (undatiert).
Das Ende der Baureihe 276.1 (476/876)
Ab 1996 begann die S-Bahn Berlin GmbH mit der Beschaffung neuer Viertelzüge der Baureihe 481/482. Sie sollten die nunmehr bis zu 70 Jahre alten Fahrzeuge ablösen. Die Abstellungen begannen im Mai 1998. Bei den Fahrzeugen der Baureihe 476.3 reichte das Erreichen der Laufgrenze aus, um ausgemustert zu werden. Die Fahrzeuge der Baureihe 476.0 wurden erst nach größeren Schäden bzw. Unfällen ausgemustert.
Ein erster Schrottzug mit Wagen der BR 476/876 wird am 25. September 1998 nach Espenhain (bei Leipzig) abgefahren. Einige Monate später, am 14. Juli 1999, ist der letzte Einsatztag dieser Baureihe im Nordsüd-S-Bahntunnel und den dazugehörigen Zulaufstrecken. Und dann ging alles auf einmal ganz schnell: am 15. März 2000 entgleiste der Triebwagen 476 055 bei der Einfahrt in den Bahnhof Zoologischer Garten (von Tiergarten kommend) in Höhe der Kehranlage wegen einer gebrochenen Radscheibe. Eine Untersuchung weiterer Viertelzüge führte sehr schnell zu deren Abstellung und Ausmusterung. Schon am 27. Mai 2000 endete der planmäßige Einsatz der Baureihe 476/876 bei der Berliner S-Bahn. Einige Fahrzeuge wurden verkauft, der größte Teil jedoch verschrottet.
Als einziger betriebsfähiger Viertelzug ist heute beim Verein Historische S-Bahn e.V. der 476/876 002 abgestellt.
Autor:
Michael Dittrich
Quellen:
[1] Modernisierte Berliner S-Bahnfahrzeuge; Dipl.-Ing. Joachim Scherz, Dipl.-Ing. Hans-Joachim Hütter; Schienenfahrzeuge; Heft 4/1981
[2] Kurzmeldung der Berliner Verkehrsblätter; Heft 7/1990
[3] Kurzmeldung der Berliner Verkehrsblätter; Heft 11/1990
[4] Kurzmeldungen der Berliner Verkehrsblätter; Hefte 1 & 2/1992
[5] Kurzmeldungen der Berliner Verkehrsblätter; Heft 4/1991 und Heft 4/1992
[6] Kurzmeldungen der Berliner Verkehrsblätter; Hefte 5 & 6/1992
[7] Kurzmeldungen der Berliner Verkehrsblätter; Heft 6/1993 und Heft 4/1994
[8] Webseite: www.zeuthenonline.de
[9] Kurzmeldung der Berliner Verkehrsblätter; Heft 10/1995
[10] Kurzmeldungen der Berliner Verkehrsblätter; Heft 2 & 6/1996
[11] Kurzmeldung der Berliner Verkehrsblätter; Heft 6/1997
Kennzeichnung der Triebfahrzeuge der DR; Deutsche Reichsbahn; 1991
Zeitzeugenaussagen und -berichte
weiterführende Quellen und Buchtipps:
Der elektrische Betrieb auf der Berliner S-Bahn (Band 1); Bernd Neddermeyer; Verlag Neddermeyer; 1999
Der Wagenpark der Berliner S-Bahn; Carl W. Schmiedeke; Lokrundschau Verlag Hamburg; 1997
Der Stadtbahner; Wolfgang Kiebert; transpress-Verlag; 2006
letzte Änderung:
24. August 2008
Veröffentlichung:
24. August 2008