Die Rückfahrt von Hamburg nach Berlin - eine abenteuerliche Transitreise


Der Prototyp der neuen Berliner S-Bahn Baureihe 480 war per Schiene zur Internationalen Verkehrsausstellung (IVA) nach Hamburg überführt worden. An beiden Enden des Doppeltriebwagens werden in solchen Fällen spezielle Güterwagen gekuppelt, damit der S-Bahn-Triebzug in normale Eisenbahnzüge eingestellt werden kann.
So präpariert und rechtzeitig bei der Deutschen Reichsbahn (DR) beantragt, dauerte die Hinfahrt über Staaken bis zum Grenzbahnhof Büchen sechs Stunden. Welch rasante Reise im Vergleich zur Rückfahrt!

Nachdem die IVA am Sonntag, dem 12. Juni 1988 ihre Pforten geschlossen hatte, baute ich am Montagvormittag unsere Einstiegspodeste ab und machte den Zug für die Rückfahrt startklar. Die Rangierer der Deutschen Bundesbahn (DB) hatten inzwischen viel zu tun, die ausgestellten Fahrzeuge zu sortieren, bis "mein S-Bahn-Zug" an der Reihe war.. Es verlief zunächst alles wie angekündigt; am Abend traf der Eilgut-Container-Güterzug mit der am Zugschluß angehängten S-Bahn im Grenzbahnhof Büchen ein.

Bild: Vorstellung im Bahnhof Grunewald

Schon die erste Präsentation der Prototypen im S-Bahnhof Grunewald zog eine Menge Berliner an.
Vorn der 480 001, dahinter der 480 004 (9. Mai 1987).

Eigentlich hätte jetzt nur noch die sechsstündige Fahrt durch die DDR folgen müssen, und ich träumte bereits von meinem Bett daheim, das ich seit einer Woche Messerummel entbehrte. Doch wie so häufig kommt alles anders als man denkt.
In Büchen lag noch keine Nachricht von der DR vor, daß man die S-Bahn annehmen und transportieren wird. Bei "außergewöhnlichen Sendungen" sind Telegramme vorgeschrieben, aus denen alles Wichtige hervorgeht, sonst läuft nichts. Also wurde "mein S-Bahn-Zug" wieder abgehängt. Die Nacht verbrachte ich in der Lokführer-Unterkunft (Komfortstufe Jugendherberge); den morgendlichen Kaffee bekam ich in der Bahnhofsmission.
Am Dienstag gegen Mittag traf das ersehnte Telegramm von der DR endlich ein; Abfahrt erst am Mittwochvormittag! Jetzt mußte ich mich schnell entscheiden, denn 15 Minuten später fuhr der nächste Personenzug nach Berlin. Der Gedanke, am Abend meine liebe Frau in den Arm zu nehmen und am nächsten Tag frisch eingekleidet wieder nach Büchen zu fahren, ließ mich nicht lange zögern. Drei Stunden später war ich in Berlin.

Am Mittwoch um 11:00 Uhr saß ich schon wieder auf meinem S-Bahn-Zug in Büchen. Gegen 12:00 Uhr ging die Reise dann los, die für mich zu einer Odyssee werden sollte. Das Wetter war sonnig und meine Stimmung hervorragend. Doch die sollte in den nächsten Tagen auf bis zum Gefrierpunkt absinken. Nicht weit hinter der Grenze in Hagenow-Land stellte mich die DR für elf Stunden auf ein Abstellgleis. Nachts um 2:00 Uhr fiel ich dann im Halbschlaf fast von meiner Sitzbank, als man mich an einen anderen Güterzug rangierte. Es folgte eine Fahrt im Bummeltempo bis Neustadt an der Dosse, wo ich das Vergnügen hatte, erneut zwölf Stunden auf ein Abstellgleis geschoben zu werden.

Allmählich stellten sich menschliche Bedürfnisse ein: Essen, Trinken, Hygiene. Ein mit Anstreicharbeiten beschäftigter Reichsbahner nahm sich meiner an und führte mich heimlich in Betriebskantine, wo wir uns in die Schlange einreihten. Es gab Kaffee und belegte Brötchen, die ich mit Heißhunger verschlang. Wenn ich gewußt hätte, wie lange diese Rückfahrt dauern würde, hätte ich mich entsprechend ausgerüstet. Wie angenehm war doch im Vergleich die Hinfahrt gewesen. Mein Unmut wuchs: warum hat man mich auf diese abenteuerliche Reise "über die Dörfer" geschickt? Ob meine Kollegen inzwischen nach mir forschten?

Am Vormittag erfolgte dann endlich eine offizielle Information von der DR. Der diensthabende Stellvertreter des stellvertretenden Leiters der vom Güterbahnhof Neustadt erschien und teilte mir mit es wäre ein Anruf vom Ministerium aus Berlin eingegangen. Man solle sich um mich kümmern...
Er sagte in der Küche Bescheid, und ich bekam unentgeltlich ein warmes Mittagessen. Der "Anstreicher" nahm mich wieder mit, und wir kletterten über abgestellte Güterzüge. Endlich konnte ich mal die Toilette aufsuchen und mir die Hände waschen. Die Tischgespräche waren kernig-deftig, und man duzte mich, wie unter Eisenbahnern üblich. Ich fühlte mich hier plötzlich richtig geborgen, und die unterschwelligen Ängste, daß mich die Transportpolizei abseits meines S-Bahn-Wagens erwischt, waren verdrängt. Man spendierte mir noch eine Brause und belegte Brötchen; ein Eisenbahner grinste: "Die wirst Du brauchen, hast bestimmt noch eine längere Reise vor Dir!"

Wieder zurück auf meinem S-Bahn-Zug, setzte ich mich in die geöffnete Tür und las in den Prospekten von der IVA. Dabei beobachtete ich die vorbeifahrenden Güterwagen. Schweine quiekten und steckten ihre Nase heraus; Traktoren, Bandstahl, Baumstämme und Getreide rollten in bunter Folge vorbei. Plötzlich hörte ich Stimmen aus dem Führerstand meines S-Bahn-Wagens. Eine ganze Brigade Rangierer bestaunten die Technik und ließen sich erklären, wozu Knöpfe, Leuchtmelder und der Bildschirm eingebaut sind; ich kam mir vor wie auf der Messe.

Bild: Prototyp nahe der Sundgauer Straße

480 001 und 002 nahe dem S-Bahnhof Sundgauer Straße.

Um 17:00 Uhr ging die Fahrt mit einem anderen Güterzug dann endlich weiter. nach eineinhalb Stunden wurde der Zug bei Satzkorn in der Nähe von Potsdam von der Lok abgekuppelt und erneut abgestellt. Es erfolgte ein Austausch der Diesellok gegen eine E-Lok, und weitere Stunden verstrichen. Ich sah den Fernmeldeturm auf dem Schäferberg in West-Berlin. Von hier hätte ich leicht zu Fuß nach Wannsee gehen können. Aber es dauerte noch weitere sechzehn Stunden bis ich dort war.
Nach vier Stunden Wartezeit ging es im Schneckentempo weiter. Gegen Mitternacht fuhren wir durch Potsdam-Hauptbahnhof und Michendorf. Der Güterzug wurde in Seddin, südlich von Berlin, über einen Ablaufberg geschoben; ich verfolgte das nächtliche Geschehen fröstelnd und mit müden Augen. Ein warmer Kaffee, auch ungefiltert wie der von heute früh, wäre jetzt eine schöne Sache, dachte ich.
Ich erinnerte den Rangierer daran, daß die S-Bahn wegen der geringen Bodenfreiheit nicht über den Ablaufberg geschleppt werden darf. Schließlich wollte ich das gute Stück unverbeult Heim begleiten. Man schob mich auf ein Gleis, das mit Lademaßüberschreitungsfahrzeugen und allerlei Exoten belegt war. Wieder hieß es warten. Mit kalten Füßen, nichts im Magen, Stimmung kaum zu unterbieten, beobachtete ich den Sonnenaufgang; immer wieder fielen mir die Augen zu, und ich schreckte wieder auf, wenn auf dem Gleis nebenan die Güterwagen krachend aufeinanderprallten.

Um 6:00 Uhr war Schichtwechsel. Ich sprach einen vorbeikommenden Lokführer an und bat ihn um Nachfrage bei den verantwortlichen Stellen. Er ermutigte mich, den Zug zu verlassen und in einem in der Nähe befindlichen Flachbau mein Problem selber vorzutragen. Der dort diensthabende Reichsbahner telefonierte und erhielt prompt die Auskunft, daß ich gegen 10:00 Uhr weiterbefördert werden sollte. Ich stieg wieder auf meinem Zug und vertrieb mir die Zeit damit, erste Notizen für meinen Reisebericht zu machen. Schreibpapier hatte ich genug an Bord. Mit den bei der IVA übriggebliebenen Druckschriften und Bastelbögen hatte ich mir bereist ein Nachtlager gebaut. Zwischen zwei Sitzbänken niveaugleich gestapelt, ergab sich eine Liegefläche, die zwar hart, aber ausreichend groß war, wenn ich mich zusammenrollte. Als Kopfkissen diente mir eine dicke Haushalts-Papierrolle. Zum Glück schien die Sonne jetzt durch das Fenster; das munterte etwas auf. Der Zug wurde nun für die letzte Etappe rangiert und für die Zollkontrolle bereitgestellt.

Wunschgemäß öffnete ich diverse Klappen und Schränke; auch solche, die seit Fabrikauslieferung nicht mehr geöffnet zu werden brauchten. Währenddessen lief ein betagter Schäferhund gehorsam auf den ölgetränkten Eisenbahnschwellen unter dem Zug entlang. Endlich fuhr der Zug los und es folgte nur noch ein kurzer Halt zwecks Paßkontrolle in Drewitz. Bei Steinstücken passierten wir die Grenze; fast hatte ich vergessen, daß mich Hunger und Durst plagten und ich die letzten beiden Tage ohne das übliche Duschen und Zähneputzen auskommen mußte. Freude kam auf, daß dieses unerwartete Abenteuer jetzt vorbei war und ich angemessener Stärkung und Körperpflege richtig ausschlafen konnte. Es war bereits Freitag und Feiertag, der 17. Juni.
47 Stunden war es jetzt her, daß ich mit unserem Ausstellungszug in Büchen/Schwanheide die Grenze passiert hatte, um "mal schnell" den neuen Zug wieder nach Hause zu bringen. Die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit betrug 5 km/h. Auf dem Güterbahnhof Berlin-Grunewald erwartete mich bereits meine Frau. Sie hatte in den vergangenen Tagen mit allerlei Stellen telefoniert und letztlich hinnehmen müssen, daß es nicht genehmigt wurde, mich mit dem Auto abzuholen.


Die Prototypen Die Serienfahrzeuge Selbstgespräche

Autor:
Kurt Beier

Danksagung:
Mit freundlicher Genehmigung des Hestra Verlages: S-Bahn Berlin - Der neue Triebzug ET 480, Hestra-Verlag, 1990

letzte Änderung:
26. Oktober 2008

Veröffentlichung:
26. Oktober 2008

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