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Es ist der 31. Dezember 1975 und es ist eine Nacht, die sich der Teufel ausgedacht haben muss. 20 Grad Minus und ein Schneetreiben, dass man die Hand nicht mehr vor Augen sehen kann. Um 21.23 Uhr bin ich mit meinem Zug von Ostkreuz in Richtung Erkner abgefahren und jetzt, zwanzig Minuten später, bin ich mitten im Berliner Stadtforst.
Längst habe ich die Geschwindigkeit verringert, weil ich nichts mehr sehen kann. Und auch die Kälte trägt ihren Teil dazu bei, dass keine Rennfahrergefühle bei mir aufkommen. Ich führe heute einen Zug der Baureihe 276. Einen Olympia. Eigentlich sind das sehr schöne Züge. Rennen wie ein geölter Blitz und reagieren normalerweise auf jede noch so kleine Bremsstufe. Allerdings sind die Führerstände so schlecht abgedichtet, dass ich mittlerweile im Schnee stehe. Mantel, Handschuhe und Mütze tragen war im Winter ohnehin auf diesen Zügen Pflicht, wollte man nicht erfrieren.
Vor einigen Minuten habe ich Friedrichshagen verlassen und fahre mit ca. 60 Stundenkilometern auf Rahnsdorf zu. Schemenhaft fliegt mein Gegenzug an mir vorbei. Ein Stadtbahner. Dessen Führer hat es warm. Nach Rahnsdorf und Wilhelmshagen geht es auf den Endbahnhof zu. Erkner ist ein Kopfbahnhof und will bei diesen Witterungsbedingungen erst einmal genommen werden. Längst habe ich angefangen zu bremsen. Doch jetzt zeigt mir der Winter, was eine Harke ist. Flugschnee sitzt zwischen Radreifen und Bremsklötzen, ist vereist und verhindert jede Bremswirkung. Durch den Druck der Bremssohlen taut jedoch langsam das Eis und ich erreiche im Kriechgang den Bahnsteig und die H-Tafel. Nur noch wenige Reisende verlassen meinen Zug, um nach Hausee zu gehen oder um mit Freunden zu feiern.
Beachten tut mich niemand.
Zwei Runden später zeigt meine Uhr 0.00 Uhr und wieder bin ich mitten im Wald.
Prosit Neujahr.
Ich kann nicht mal mit mir selber mit Kaffee anstoßen, weil die Sicht immer noch sehr schlecht ist und die Strecke meine ganze Aufmerksamkeit erfordert.
Zu Hause sitzen jetzt meine Frau und meine beiden Töchter und feiern mit Freunden ins neue Jahr. Das ist jetzt schon der dritte Jahreswechsel, den ich nicht mit ihnen verbringe. Ich habe es mir aber so ausgesucht. Bin Lokführer, arbeite Schicht und habe den schönsten Beruf, den man sich vorstellen kann.
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Autor:
bekannt; aufgeschrieben von Michael Asbeck, Berlin
letzte Änderung:
24. Dezember 2012
Veröffentlichung:
24. Dezember 2012