Entgleisung im Berliner Nordsüd-S-Bahntunnel 1987


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Zwischen September 1986 und November 1989 entgleisten im Nordsüd-S-Bahntunnel sieben Mal S-Bahn-Fahrzeuge der BVG. Jedesmal rückte der Hilfsgerätezug Wannsee aus. Am Nachmittag des 23. März 1987 entgleiste zwischen den S-Bahnhöfen Unter den Linden (heute Brandenburger Tor) und Potsdamer Platz ein Zug der Linie S2. Die hintere Achse des letzten Wagens (275 419) sprang aus den Schienen. Der Westberliner Michael Dewitz, von 1967 bis 1979 bei der Deutschen Reichsbahn angestellt und als BVG-Fahrmeister seit 1984 wieder bei der S-Bahn, erinnert sich an diesen Unfall:

Bei der vierten Entgleisung befand ich mich gerade im Zugprüfer-Büro im Anhalter Bahnhof. Nachdem sich die BVG-Leitstelle mit dem Fahrzeugdispatcher der Oberdispatcherleitung der S-Bahn (OdL-S-Bahn) abgesprochen hatte, begab ich mich mit dem nächsten Zug zur Unfallstelle. Ich lies mich bis kurz davor bringen und lief die letzten Meter bis zum Zug. Vor Ort befanden sich neben dem BVG-Triebfahrzeugführer und den Fahrgästen auch schon ein Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn sowie ein Offizier der Grenztruppen. Sie waren sichtlich froh, daß nun jemand Sachverständiges vor Ort war. Die ersten Kontrollen ergaben, dass der Triebwagen des hinteren Viertelzuges, also der 275 419 mit einer Achse entgleist war. Das Gleis war beschädigt, hier waren an mehreren Stellen die Kleineisen ausgeschlagen, aber es war mit Schritt befahrbar.

In Absprache mit der Odl S-Bahn wurde daraufhin die Evakuierung der Fahrgäste eingeleitet. Die Verständigung darüber erfolgte über die sogenannte Klein-Basa, das waren Signalfernsprecher an jedem Ausfahrsignal der unterirdischen S-Bahnhöfe - außer Friedrichstraße. Über diese Apparate hatte man eine Verbindung zur Oberdispatcherleitung der S-Bahn in der Ostberliner Wilhelm-Pieck-Straße. Wenig später kam ein Zug als eine sogenannte Sperrfahrt von Friedrichstraße an der Unfallstelle an, der die im entgleisten Zug wartenden Leute aufnehmen sollte. Unter Mitwirkung der beiden Triebwagenführer, des Reichsbahners und des Offiziers sowie meiner Person geleiteten wir die Fahrgäste in den bereitgestellten Zug. Dieser kehrte nach Beendigung der Aktion wieder zur Friedrichstraße zurück.

Nach knapp einer Stunde traf vor Ort ein hoher Reichsbahnmitarbeiter ein. Dieser zeigte sich wegen meiner Handlungen, die ja alle mit der OdL S-Bahn abgesprochen waren, mehr als entrüstet. Nachdem er den Mitarbeiter der Reichsbahn sowie den Offizier der Grenztruppen in ihre Schranken gewiesen hatte, kippte die bis dahin freundliche Stimmung um: Von nun an herrschte eine kühlere Atmosphäre, nur noch das Nötigste wurde besprochen. Mir warf der hohe Reichsbahnmitarbeiter vor, daß ich keine Amtshandlungen auf dem Gebiet der Deutschen Reichsbahn durchführen darf. Ich erwiderte ihm, daß ich alle Handlungen mit der OdL S-Bahn abgesprochen und ich zudem meine Ausbildung bei der Reichsbahn bekommen hatte. Trotzdem wurde ich auf den Führerstand des Unfallzuges verwiesen.

Bild: Kurve zwischen Udl und Pop

Zwischen den S-Bahnhöfen Unter den Linden und Potsdamer Platz.
Nach der Kurve folgt der "Heuboden" (Symbolbild, 16. Januar 2003).

Kurz darauf erreichte der Hilfsgerätezug (HGZ) des S-Bw Wannsee die Unfallstelle. Nach einigen kurzen Absprachen mit dem Leiter des HGZ mußte ich die Unfallstelle in Begleitung des Offiziers und zweier hinzugekommener Soldaten verlassen. Im stillgelegten S-Bahnhof Potsdamer Platz durchliefen wir die Mittelgleise, ich zählte auf den beiden Bahnsteigen über 15 bewaffnete Grenzsoldaten. Meine Eskorte brachte mich bis hinter den Bahnhof an die farblich gekennzeichnete Grenzlinie, von wo aus ich zu Fuß allein weiter zur Station Anhalter Bahnhof lief.

Der Schadzug wurde später nach dem Aufgleisen zur Untersuchung in den S-Bahnhof Potsdamer Platz abgefahren. Da das dortige Stellwerk Pou im Durchleitbetrieb arbeitete und somit unbesetzt war, mußte die Reichsbahn erst einen kundigen Fahrdienstleiter aus Ostberlin organisieren. Nachdem dieser die mit Schlössern versehenen Weichen geöffnet und gestellt hatte, konnte der Schadzug auf eines der beiden Innengleise und zur weiteren Untersuchung in die Kehranlage eingefahren und abgestellt werden.


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Autor:
Michael Dewitz, Berlin

letzte Änderung:
7. Dezember 2012

Veröffentlichung:
7. Dezember 2012

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