Die Trennung des S-Bahnnetzes durch den Mauerbau

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Die Auswirkungen auf den S-Bahnverkehr in den ersten Tagen nach dem Mauerbau

In den Morgenstunden des 13. August 1961 wurde das S-Bahnnetz an den folgenden zwölf Stellen getrennt:

Streckenabschnitt Länge Bemerkungen
Zugverkehr im Bahnhof getrennt
Bahnhof Friedrichstraße - S-Bahnsteig C: Züge aus/nach Osten, S-Bahnsteig B: Züge aus/nach Westen
Strecke getrennt, S-Bahnverkehr noch für Wochen aufrechterhalten, danach Zugverkehr mit lokbespannten Personenzügen bzw. Schienenbusse
Lichtenrade - Mahlow 3,06 km S-Bahn-Pendelzug Mahlow—Rangsdorf - bis 12.09.1961
Wannsee - Griebnitzsee 4,67 km S-Bahn-Pendelzug Griebnitzsee—Potsdam Stadt - bis 9.10.1961
Spandau West - Albrechtshof 4,42 km S-Bahn-Pendelzug Albrechtshof—Falkensee - bis 9.10.1961
Strecke getrennt, S-Bahnverkehr weiterhin aufrechterhalten
Heiligensee - (-Stolpe Süd *) Hennigsdorf 2,47 km bis 20.09 1983 Inselbetrieb Hennigsdorf—Velten, Umstellung von 750 V DC auf 15 kV AC
Frohnau - Hohen Neuendorf 4,27 km Inselbetrieb Hohen Neuendorf—Oranienburg, ab 19.11.1961 Weiterführung über nördlichen Außenring
Strecke getrennt, kein Zugverkehr
Köllnische Heide - Baumschulenweg 1,72 km Wiederinbetriebnahme nach Neubau am 17.12.1993
Sonnenallee - Treptower Park 2,67 km Wiederinbetriebnahme nach Neubau am 18.12.1997
Bornholmer Straße - Pankow 1,09 km Wiederinbetriebnahme nach Neubau am 14.09.2001
Gesundbrunnen - Schönhauser Allee 1,70 km Wiederinbetriebnahme nach Neubau am 17.09.2001
Lichterfelde Süd - Teltow 2,60 km Wiederinbetriebnahme zum neu gelegenen S-Bf Teltow Stadt am 25.02.2005
Wannsee - Dreilinden 4,24 km Zugverkehr auf der Friedhofsbahn bis heute eingestellt
gesamt: 32,91 km  

Tabelle 1. Je nach Quellenangabe können die Kilometerangaben differieren.
*) Der Kontrollbahnhof Stolpe Süd wurde noch am 14. August 1961 angefahren.

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, das es vor dem Mauerbau eine S-Bahnverbindung zwischen Schönhauser Allee und Pankow unter Umgehung des S-Bahnhofes Bornholmer Straße gab. Hierzu waren im Jahre 1952 die Gütergleise Schönhauser Allee—Berlin-Pankow zusätzlich mit einer Stromschiene versehen worden. Seit dem 25. Dezember 1952 verkehrten hier im Gemeinschaftsbetrieb die Züge der Zuggruppe C (ab 1954 Zugruppe K) in einen 40-Minutentakt mit denen der Fernbahn. Da nach dem Bau der Mauer die aus/nach Buch und Bernau verkehrenden Züge ebenfalls auf diesen Gleisen fahren mußten, was zu starken Verspätungen und Behinderungen führte - und die Züge von/nach Oranienburg nach der bis zum 19. November 1961 durchgeführten Ausrüstung des nördlichen Außenringes mit einer Stromschiene ebenfalls durch dieses Nadelöhr fahren sollten - wurde unmittelbar in den nachfolgenden Augusttagen mit dem Bau einer zusätzlichen zweigleisigen S-Bahn-Verbindungsstrecke begonnen. Am 7. Dezember 1961 wurde das erste Gleis dieser neuen Verbindungsstrecke, drei Tage später das zweite Gleis in Betrieb genommen. Da gleichzeitig auch die für die Fernbahn neue Umleitungsstrecke ihrer Bestimmung übergeben worde, entspannte sich die bis dahin vorliegende schwierige Betriebssituation fast schon von heute auf morgen.

Nachfolgende S-Bahnhöfe wurden für den Reisendenverkehr geschlossen bzw. waren aufgrund ihrer unmittelbaren Grenznähe nur noch von Westberlin aus erreichbar:

Bahnhof Bemerkungen
geschlossen am 13. August 1961
Staaken - geschlossen wegen Grenznähe, wiedereröffnet am 4. März 1962, endgültig geschlossen am 17.9.1980
Bornholmer Straße - wiedereröffnet am 22.9.1990 (vorerst nur Behelfsbahnsteige an neuer Stelle)
Nordbahnhof - wiedereröffnet am 1.9.1990
Oranienburger Straße - wiedereröffnet am 1.9.1990
Unter den Linden - wiedereröffnet am 1.9.1990
Potsdamer Platz - wiedereröffnet am 1.3.1992
eingeschränkte Erreichbarkeit
Wollankstraße - S-Bahnhof lag im sowjetischen Sektor, Zugang nur noch vom französischen Sektor aus
Schönholz - S-Bahnhof lag im französischen Sektor unmittelbar an der Grenze des sowjetischen Sektors
Wilhelmsruh - S-Bahnhof lag im französischen Sektor unmittelbar an der Grenze des sowjetischen Sektors
Düppel - S-Bahnhof lag im amerikanischen Sektor unmittelbar an der Grenze zur DDR
Stolpe Süd - Kontrollbahnhof, letzte Zugfahrt am 14.8.1961, heute nicht wieder im Betrieb
Dreilinden - geschlossen, Bahnhof nur noch in Resten vorhanden
Stahnsdorf - geschlossen, Bahnhof nur noch in Resten vorhanden

Tabelle 2.


Wie schon beschrieben stabilisierte sich der S-Bahnverkehr an jenem denkwürdigen Sonntag sehr schnell. Die nachfolgende Auflistung gibt einen Überblick über den gefahrenen Zugverkehr:

Vorgesehene Zuggruppen   Stand: 13.8.1961, 8.30 Uhr
DDR und Demokr. Berlin          
           
Strecke Zuggruppe Zugfolge Anzahl der Wagenzüge
Oranienburg - Hohen Neuendorf 1 20 2 4/4 8/4
Bernau - Grünau 2 20 9 4/4 36/4
Velten - Stolpe Süd 3 30 2 4/4 8/4
Mahlow - Rangsdorf 3 30 2 4/4 8/4
Stahnsdorf - Wannsee 6 eingestellt - - -
Erkner - Friedrichstr. L 20 6 4/4 24/4
Königs Wusterhausen - Friedrichstr. H 20 8 4/4 32/4
Spandau West - Falkensee H eingestellt - - -
Falkensee - Albrechtshof H 20 1 4/4 4/4
Strausberg - Alexanderplatz E 20 6 4/4 24/4
Spandau West - Staaken E eingestellt - - -
Strausberg Nord - Strausberg E/12 unverändert 1 1/2 2/4
Grünau - Warschauer Str. D 20 6 3/4 18/4
Spindlersfeld - Schönh. Allee N 20 4 3/4 12/4
Mahlsdorf - Alexanderplatz G 20 4 3/4 12/4
Erkner - Ostbf F 20 5 4/4 20/4
      56   208/4
Westsektor          
Frohnau - Wannsee 1 20 8 4/4 32/4
Lichterfelde Süd - Gesundbrunnen 2 20 5 4/4 20/4
Heiligensee - Lichtenrade 3 30 6 4/4 24/4
Zehlendorf - Düppel Kleinmachnow 5 20 1 1/4 1/4
Wannsee - Friedrichstr. L 20 4 4/4 16/4
Spandau West - Friedrichstr. H 20 4 4/4 16/4
Spandau West - Friedrichstr. E 20 5 4/4 20/4
Gesundbrunnen - Hermannstr. A 10 10 3/4 30/4
Sonnenallee - Hermannstr. Pendel   1 3/4 3/4
Jungfernheide - Spandau West N 20 2 3/4 6/4
Jungfernheide - Gartenfeld B unverändert 3 4/4 12/4
      49   180/4

Übersicht über die S-Bahnverkehre, nur wenige Stunden nach dem Bau der Berliner Mauer.
Tabellenabschrift vom Morgen des 13.8.1961 der Oberdispatcherleitung der S-Bahn.


Da die Sperrmaßnahmen in jener Nacht mit Härte und ohne jegliche Rücksicht für den S-Bahnverkehr durchgeführt wurden, stellte sich im Laufe des Sonntages heraus, das 40 Viertelzüge von den nun vorhandenen beiden Teilnetzen getrennt waren. Man hatte ihnen regelrecht den Rückweg nach Berlin abgeschnitten bzw. versperrt. Während die Züge in Mahlow, Potsdam Stadt, Falkensee und Hohen Neuendorf (siehe u.a. Tabellenabschrift) im Laufe der nächsten Tage für einen Pendelverkehr genutzt werden konnten, waren vier S-Bahnzüge komplett vom S-Bahnnetz abgeschnitten. Sie standen in Staaken (zwei Vollzüge), zwischen Treptower Park und Sonnenallee (ein Dreiviertelzug) sowie ein Vollzug in Teltow, der angeblich in Stahnsdorf abgestellte Zug hat sich im Nachhinein als Fehlinformation herausgestellt. Diese 15 Viertelzüge wurden in den darauffolgenden Tagen zurück in das nunmehrige Ostberliner S-Bahnetz überführt, für die Fahrt von Teltow ist uns ein Augenzeugenbericht überliefert:

Ein oder zwei Tage nach dem Mauerbau erhielt ich abends einen Anruf. Ich sollte mich zur Rbd begeben und einen Fahrschlüssel mitbringen, weil ein Zug bewegt werden sollte. Dort angekommen, ging es sehr geheimnisvoll zu. Ich mußte allein warten, weil ich nicht mitbekommen sollte, daß noch andere Kollegen ähnliche Vorladungen hatten. Wir sind dann zu dritt im Auto zum Bahnhof Teltow gefahren worden und sollten uns auf dem Stellwerk melden. Dort übergab uns ein Zivilist einen verschlossenen Umschlag. Darin enthalten war ein Brief mit dem Befehl, den dort stehenden S-Bahn-Zug vorzubereiten und zu einem späteren Zeitpunkt auf Abfahrauftrag nach Nordbahnhof loszufahren. Der Zivilist hat den Brief sofort nach dem Lesen wieder abgenommen. Nachdem der Stacheldraht, der am Bahnsteigende die Gleise versperrt hat, weggeräumt wurde, sind wir elektrisch zum S-Bw Nordbahnhof gefahren [1].

Diese Überführung war nur dadurch möglich gewesen, da die Gleise zwischen Teltow und Lichterfelde Süd erst am 15. August 1961 auf einer Länge von 30 Metern getrennt wurden [4].

Auch auf dem nunmehrigen Westberliner S-Bahnnetz kam es zu teilungsbedingten Unterbrechungen des Zugverkehres. Die nun neu vom S-Bahnhof Gesundbrunnen startenden Züge der Zugruppen A (Anton) und AI (Adler) endeten vorerst am S-Bahnhof Hermannstraße. Von dort bis zum S-Bahnhof Sonnenallee gab es einen Pendelverkehr, die Reichsbahn mußte erst ca. 900 Meter weiter nördlich eine Weiche einbauen. Ab dem 2. September 1961 fuhren die rot-gelben Züge wieder alle zehn Minuten zur Sonnenallee und wendeten nun auf dem als Kehrgleis umfunktionierten ehemaligen Ringbahn-Streckengleis Treptower Park—Sonnenallee. Den Zugverkehr zum S-Bahnhof Köllnische Heide nahm die Deutsche Reichsbahn erst zum 27. September 1961 wieder auf, die Züge der Zuggruppe G (Zoologischer Garten—Köllnische Heide) erreichten die Station nun alle 20 Minuten über das nördlich gelegene Gleis 1 und wendeten gleich am Bahnsteig.

Reaktionen

Die Einwohner der nun getrennten Stadthälften zeigten sich geschockt. Auch die Westberliner Politik war vom Mauerbau überrascht worden. Der damalige Regierende Bürgermeister Willy Brandt schrieb dazu in seinem Buch "Erinnerungen":

Wir waren schrecklich schlecht vorbereitet. Als es passiert war, haben wir zunächst kaum Besseres gewußt, als zu tönen: "Die Mauer muß wieder weg." Gegenmaßnahmen, die etwas hätten bewirken können, waren auf seiten der Westmächte nicht gefragt. (...) Warum nicht ungeschminkt zugeben: Mit vielen meiner Mitbürger war ich enttäuscht, das "der Westen" sich als nicht willens oder fähig erwies, es jedenfalls nicht vermocht hatte, gestützt auf den vielzitierten Viermächtestatus Initiativen abzuleiten, die Deutschland und Europa das Monstrum jener "Mauer der Schande" erspart hätten [2].

Seine gefühlte Ohnmacht und die seiner Westberliner Mitbürger brachten Brandt dazu, am 16. August 1961 vor dem Schöneberger Rathaus vor den mehr als 200.000 anwesenden Westberlinern einen für die Reichsbahn folgenschweren Satz zu sagen:

Es ist unzumutbar, daß die Westgeldeinnahmen der S-Bahn für den Einkauf des Stacheldrahtes verwendet werden.

Wenige Stunden später fasste der Westberliner DGB-Landesverband den Beschluß, die Bevölkerung zum S-Bahnboykott aufzurufen. Am nächsten Tag wurde der Aufruf weiterverbereitet und innerhalb weniger Stunden fand die Westberliner Ohnmacht darin ein entsprechendes Ventil. An dieser Stelle soll auf dieses Thema nicht weiter eingegangen werden, bitte lesen Sie hierzu den Aufsatz: S-Bahnboykott.

Der Westberliner Senat, hier der Senator für Verkehr und Betriebe, nahm sich der Problematik der S-Bahnverkehrs durch die Ostberliner Reichsbahn an. In einem Vermerk vom 23. August 1961 [3] erörterte die Senatsverwaltung eine "Durchführung des S-Bahnverkehrs unter westlicher Kontrolle". Zur Betrachtung standen drei Szenarien:

Die Einspeisung des Triebstromes erfolgt dann über das Schaltwerk Halensee vom Bewag-Kraftwerk Charlottenburg und über die Notschaltstelle Putlitzstraße vom Bewag-Kraftwerk Moabit.

Von dem Schaltwerk und der Notschaltstelle wird der Drehstrom durch ein 30kV-Kabelnetz auf die einzelnen in den Westsektoren gelegenen Unterwerke - mit Ausnahme der im französischen Sektor gelegenen Unterwerke Hermsdorf und Tegel - verteilt. Der Drehstrom wird in den Unterwerken in Gleichstrom von 800 Volt umgeformt und der Stromschienenanlage zugeführt.

Die Unterwerke Hermsdorf und Tegel sind z.Z. an das im Ostsektor gelegene Schaltwerk Pankow angeschlossen. Eine Stromversorgung ist durch die West-Bewag für die beiden S-Bahnstrecken im französischen Sektor mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden.

Die S-Bahnverbindungen zwischen den Bahnhöfen Schönholz und Frohnau bzw. Heiligensee haben jedoch für den öffentlichen Nahverkehr nur eine geringe Bedeutung, da die BVG jederzeit diesen Teil des französischen Sektors durch die U-Bahnlinie nach Tegel und durch Omnibusverbindungen ausreichend bedienen kann.

Ostberlin stellte nicht den Westberliner S-Bahnverkehr ein. Auch wenn sich der Zugverkehr in beiden neuen Teilnetzen zunehmend stabilisierte, die Fahrgäste für sich neue Wege fanden, die unter Ostberliner Regie in Westberlin verkehrende S-Bahn blieb für die nächsten knapp 22 Jahre ein Zankapfel, ein verstoßenes Kind, ein "Dorn im Fleische des Kapitalismus". Über die Jahre hinweg gab es auf beiden Seiten wiederholt Überlegungen, das Westberliner S-Bahnnetz entsprechend seiner Bedeutung wieder zu integrieren. Während die S-Bahn in Ostberlin das Rückgrat des Nahverkehrs bildete, verkümmerte sie in Westberlin zu einem Anhängsel im Nahverkehrsangebot. Und wieder ward ein Mythos über die Berliner S-Bahn geboren, ein Mythos, der sie damals einzigartig machte.

Bild: Wachtürm südlich Lichtenrade

Ein Wachturm der ersten Generation steht auf DDR-Gebiet (Bezirk Potsdam, Kreis Zossen) auf der teilgeräumten Gleistrasse Lichtenrade—Mahlow (1970er Jahre).


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Autor:
Mike Straschewski

Quellen und weiterführende Buchtipps:
[1] Mit freundlicher Genehmigung der Berliner Verkehrsblätter, Heft 8/1995;
[2] Willy Brandt: Erinnerungen; SPIEGEL-Verlag; 2006
[3] Vermerk des Senators für Verkehr und Betriebe vom 23.8.1961; Sammlung Axel Mauruszat
[4] Endstation Mauerbau; Manuel Jacob; Verlag Neddermeyer; 2011
August 1961 - S-Bahn und Mauerbau; Udo Dittfurth; Verlag GVE; 2003
Der elektrische Betrieb auf der Berliner S-Bahn (Band 5); Konrad Koschinski; Verlag Neddermeyer; 2002

Danksagung:
Der Autor bedankt sich bei Manuel Jacob, Axel Mauruszat sowie beim Verlag Neddermeyer für die Bereitstellung und Veröffentlichung der Dokumente.

letzte Änderung:
17. August 2013

Veröffentlichung:
13. August 2013

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