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Schwere Zeiten II
Bereits sechs Wochen später war die erste Bewährungsprobe zu bestehen, als die West-Berliner Eisenbahner in einen Streik traten, um ihre Bezahlung in Westgeld zu erreichen. Sein langjähriger Mitarbeiter Alfred Pohl erinnert sich nicht nur, dass Kittlaus einen Teilbetrieb im Osten organisieren musste. Er konnte auch seine Diensträume im Reichsbahn-Gebäude im amerikanischen Sektor nicht mehr betreten, weil es von streikenden Eisenbahnern besetzt war. So bezog er ein Notquartier bei Kreikemeier in der Eisenbahn-Generaldirektion in der Voßstraße in Berlin-Mitte. Mitunter konnte er nicht nach West-Berlin in seine Wohnung fahren. Er begleitete Pohl dann nach Hause, um dort ein Bad zu nehmen, weiß dieser noch.
Seine nächsten Glanzstücke lieferte Kittlaus im Mai 1950 (Deutschlandtreffen der Jugend) und im August 1951 zu den III. Weltfestspielen der Jugend in Ost-Berlin ab. Obwohl die Kriegswunden noch nicht verheilt waren und die S-Bahn ohnehin stark belastet, gelang es ihm, für den Verlauf von 14 Tagen teilweise doppelt so viele Menschen zu befördern als üblich. Trotz der vielen eingleisigen Außenstrecken mit beschränkter Zugfolge fuhren dank ausgeklügelter Fahrpläne in ungezählten Sonderzügen statt gut einer Million oft mehr als zwei Millionen Menschen täglich. Wie hoch die Anforderungen waren, die derartige Veranstaltungen damals an die S-Bahn stellten, sollen einige Zahlen verdeutlichen:
Zum Deutschlandtreffen vom 27. bis 29. Mai 1950 wurden 171 800 Teilnehmer zu den Veranstaltungen und 111 600 Teilnehmer zurück in die Wohngebiete befördert. 2 941 Sonderzüge wurden an allen drei Tagen neben den etwa 6 600 Regelzügen gefahren. Statt 1,4 Millionen fuhren täglich etwa 2,3 Millionen Reisende mit der S-Bahn.
Im Jahre 1951 waren die Anstrengungen noch gewaltiger: Vom 2. bis zum 22. August wurden insgesamt 56,1 Millionen Reisende befördert; normal wären 37,8 Millionen gewesen. Zusätzlich zu den 49 492 Regelzügen wurden in diesen drei Wochen 15 671 Sonderzüge gefahren. Daraufhin erhielt Kittlaus 1952 die Auszeichnung als "Verdienter Eisenbahner der DDR".
Kittlaus wurde zu DDR-Zeiten mehrfach ausgezeichnet.
1952 ernennt ihn der damalige Präsident der Rbd Berlin, Decker, zum "Verdienten Eisenbahner"
Der Vizepräsident
Am 11. November 1954 erfolgte die Zusammenlegung der Abteilung S-Bahn, deren Leiter Kittlaus war, mit dem Dezernat S-Bahn zur neu gebildeten Verwaltung der S-Bahn unter seiner Leitung. Um die Bedeutung der S-Bahn im Verhältnis zu den anderen Zweigen in der Rbd Berlin zu steigern, wurde er gleichzeitig zum Vizepräsidenten der Reichsbahn-Direktion Berlin für die S-Bahn ernannt. Der Dienstsitz befand sich schon einige Zeit in der damaligen Wilhelm-Pieck-Straße im Ost-Berliner Bezirk Mitte im Gebäude der Reichsbahndirektion Berlin. Die schon erwähnten Verbindungen zum sowjetischen Personal blieben bestehen, weil ein Büro der Transportabteilung der SMAD ebenfalls dort untergebracht war. Obwohl die Transportabteilung in den fünfziger Jahren nur noch für die eigenen Militärtransporte zuständig war, interessierte sie sich weiterhin für alles Mögliche, so auch für die S-Bahn. Kittlaus hat die Anfragen, zum Beispiel nach der Pünktlichkeit der Züge oder nach dem Wagenpark, bereitwillig beantworten lassen, weil es sich im Prinzip um wertlose Nebensächlichkeiten handelte. Er sah hierin jedoch eine günstige Gelegenheit, den "Großen Bruder" positiv auf die S-Bahn einzustimmen. Wegen der persönlichen Beziehungen ist er auch dorthin zu Feiern eingeladen worden. Er konnte Klavier spielen, und Alfred Pohl erinnert sich, dass sein Chef dort auch mal musiziert hat. "Er blieb aber selten lange dort. Weil er wusste, dass ich einiges vertragen konnte, nahm er mich mit runter in die zweite Etage. Ich musste ihn dann für den Rest des Abends vertreten."
Aber auch im Westen war Kittlaus präsent. Alfred Pohl erinnert sich, dass es ihm beispielsweise in den frühen fünfziger Jahren gelungen ist, mehrere Dampflokomotiven von den Amerikanern loszueisen. Die Loks waren aber kalt abgestellt. Da er befürchtete, dass die Amerikaner ihre Zustimmung zum Abtransport kurzfristig zurückziehen könnten, hat er mitten in der Nacht alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit die Maschinen umgehend in den Ostsektor geschleppt wurden.
Pohl nahm in den 50er Jahren an Gesprächen bei Siemens teil: "Wir wurden sogar im Gäste-Kasino bewirtet. Nach dem Essen gab es Kaffee." Der Vizepräsident erreichte, dass sich das Unternehmen an der Beseitigung der Kriegsschäden an der "Siemensbahn" nach Gartenfeld mit Materiallieferungen auch für die Renovierung der Bahnsteige beteiligte. Bei dieser Gelegenheit lieferte Siemens auch die erste Neonröhrenbeleuchtung für Bahnhöfe im S-Bahn-Netz.
Pohl erinnert sich an eine andere Begebenheit, bei der ein hoher Eisenbahner auf West-Berliner Bahngelände von der "Stupo" - so hieß im DDR-Jargon die West-Polizei nach ihrem langjährigen Präsidenten Johannes Stumm - festgenommen wurde. Kittlaus wurde vom Parteisekretär gebeten, hier behilflich zu sein. Er ließ das Auto kommen, fuhr nach West-Berlin und brachte nach einigen Stunden den Kollegen gleich mit.
Kontakte nach oben ...
Friedrich Kittlaus hatte auch ein sehr gutes persönliches Verhältnis zum damaligen Verkehrsminister Kramer, und so hat er sich im Frühjahr 1953 gegen die Forderung der Behörden nach totalen Grenzkontrollen bei der S-Bahn durchsetzen können, indem er direkt bei Partei und Regierung interveniert hat. Zu Hilfe kam ihm das Argument, dass der Berufsverkehr im "demokratischen Berlin" höchste Priorität genoss; dieser wäre bei dem geplanten Umfang der Kontrollen nicht mehr zu gewährleisten gewesen.
Friedrich Kittlaus am 1. Mai 1969 im Gespräch mit einem Mitarbeiter der Handelsabteilung der sowjetischen Botschaft (links)
und dem Vorsteher des S-Bahn-Betriebswerkes Friedrichsfelde (rechts)
Ein anderes Problem war das Verbot für bestimmte Personengruppen, die Berliner Westsektoren zu betreten. Trotz der Durchsagen auf den jeweils letzten Ost-Berliner Bahnhöfen "Letzter Bahnhof im Demokratischen Sektor" kam es immer wieder vor, dass Uniformierte nach West-Berlin weiterfuhren. Die "Machthaber" forderten deshalb von der S-Bahn, dass die Aufsichten die Züge ablaufen und die Betreffenden herausholen sollten. Da auch dies zu unvertretbaren Verzögerungen im Zugbetrieb geführt hätte, ist diese Forderung von Kittlaus ebenfalls erfolgreich abgelehnt worden.
In der DDR herrschte stets Mangel an Material und Arbeitskräften. Auch die Kapazität des Reichsbahnausbesserungswerkes Schöneweide war geringer, als die Anforderungen, die von verschiedenen Seiten dorthin gerichtet wurden. Es waren dort ja nicht nur S-Bahnwagen sowie Straßen- und U-Bahnen instand zu setzen, sondern auch noch wechselnde Fertigungsaufträge für die DR zu erledigen. Weil das Raw seinerzeit nicht zur S-Bahn gehörte, sondern der Hauptverwaltung Maschinenwirtschaft unterstand, war eine direkte Einflussnahme der S-Bahn auf angemessene Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse nicht möglich. Man hatte bei der S-Bahn im Gegenteil manchmal das Gefühl, dass die kommunale BVG (Ost) auf der Parteischiene einiges zu ihren Gunsten durchstellen konnte. Kittlaus, dem dieser Weg nicht so ohne Weiteres zur Verfügung stand, musste bisweilen mit deutlichen Briefen an die Aufgaben der S-Bahn erinnern. Pikanterweise steigerte der West-Berliner die Wirkung seiner Worte, indem er diese Aufgaben als "politisch" bezeichnete.
Wenn sich der Ausbesserungsrückstand durch die Herbeischaffung bestimmter Ersatzteile beheben ließ, wusste Kittlaus mitunter Rat. Er war mit einem West-Berliner Unternehmer gut bekannt, der auf Reichsbahngelände Werbeflächen betrieb. Über diesen Kontakt hat er mehrfach Teile für die S-Bahn aus West-Berlin beschafft, wenn es sie in der DDR nicht gab, als sie gebraucht wurden. Für das "Blaue Wunder", wie der Prototyp-Zug ET 170 von 1959 mit Spitznamen hieß, soll der S-Bahn-Chef die gewölbten Panorama-Frontscheiben ebenfalls besorgt haben.
Wenn es seiner S-Bahn nutzte, dann bediente er auch die Propaganda, indem Papiere, die er unterschrieben hatte, mit offiziellen Phrasen versetzt waren. So notierte er im November 1953 zu den Vorgängen des 17. Juni: "Der Versuch der Agenten und Provokateure, den Betrieb der Berliner S-Bahn zu stören und lahm zu legen, scheiterte am eisernen Abwehrwillen unserer Eisenbahner." Anerkennungsschreiben an verdiente Eisenbahner im Zuge des 13. August 1961, die der West-Berliner unterzeichnete, gipfelten in dem Wunsch: "Ich danke Ihnen für Ihren persönlichen Einsatz und hoffe, dass Sie sich auch weiterhin für unseren (sic!) Arbeiter- und Bauernstaat einsetzen".
... und nach unten
Kittlaus verlor aber auch nie die Bindungen zur "Basis". Gerhard Bartel, ein ehemaliger Fahrdienstleiter, erinnert sich an eine Jubiläumsfeier, wo er Kittlaus Mitte der 50er Jahre begegnete: "Der Vizepräsident hielt eine Ansprache und äußerte sich dabei über die S-Bahn-Verwaltung. Er sagte, wer glaubt, dass die Bürohengste den ganzen Tag Däumchen drehen würden, oder wer Interesse an der Arbeit dort hat, der kann gerne in die Verwaltung kommen und sich ansehen, dass man dort allerhand zu tun hat. Weil ich interessiert war, habe ich Herrn Kittlaus daraufhin angesprochen. Im Laufe der Zeit habe ich ihn dann oft in seinem Büro aufgesucht."
Bartel erzählt weiter: "Der Mauerbau erforderte im Osten bekanntlich verschiedene Streckenergänzungen und ein völlig neues Betriebskonzept. Weil ich ein Tüftler bin und am Fahrplanwesen interessiert war, kam ich zwei, drei Jahre später auf die Idee, eine Fahrplankonzeption für eine mögliche Wiederverbindung dieser veränderten S-Bahn-Netzteile zu erarbeiten. Ich hatte mit Herrn Kittlaus mehrfach darüber gesprochen. Wir diskutierten auch darüber, welche Varianten günstiger sind als andere. Ich habe am Schluss einen kompletten Buchfahrplan in einigen Exemplaren mit der Schreibmaschine erstellt und Kittlaus eines davon gegeben."
Kittlaus und die "Basis". In den 60er Jahren spricht er zu Mitarbeitern im S-Bahn-Betriebswerk Nordbahnhof.
Teile dieser Ausarbeitung waren über 30 Jahre später im Einflussbereich von Kittlaus noch vorhanden und legen Zeugnis davon ab, dass dieser vorausschauendes Interesse zu schätzen wusste.
Ein anderer Mitarbeiter, der diese Pläne kannte und fest davon überzeugt war, Kittlaus selber habe den Auftrag zu ihrer Erstellung gegeben, erzählt: "Herr Kittlaus war ein weitblickender, umsichtiger Mann. Er wollte nichts dem Zufall überlassen, sondern für jeden denkbaren Fall den richtigen Plan aus der Schublade ziehen können. Wenn er einen Wunsch hatte, ist er zu dem betreffenden Bearbeiter gegangen und hat gesagt, was er brauchte. Das ist dann erledigt worden und bei ihm im Tresor verschwunden. Begründungen gab es bei solchen Aufträgen nicht. Das war nicht üblich." Immerhin hatte er selber im Eindruck des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 ähnliche Konzeptionen erstellen lassen, die nie zum Einsatz gekommen sind.
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