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Der nachfolgende Text ist eine überarbeitete Version des in den Berliner Verkehrsblättern, Heft 10/2009 erschienenen gleichnamigen Aufsatzes.
Alle in den Zitaten übernommenen Rechtschreibfehler werden nicht gesondert gekennzeichnet. Der Name des Triebfahrzeugführers wurde geändert.
Vorgeschichte
Der 7. Oktober 1979 stand in der DDR wie in jedem Jahr ganz im Zeichen des Geburtstages des zweiten deutschen Staates. Und gerade in jenem Jahr lag ein rundes Jubiläum an: Zum 30. Male jährte sich der Gründungstag der Deutschen Demokratischen Republik. Entsprechend groß und vielfältig waren die dazugehörigen Veranstaltungen geplant. Schon am Vortag, dem 6. Oktober, einem Sonnabend, fanden zahlreiche Kundgebungen statt, so unter anderem in den Abendstunden auch ein Fackelzug, zu dem mehrere tausend Teilnehmer delegiert und erwartet wurden.
Um den starken An- und Abreiseverkehr abwickeln zu können, erstellte die Verwaltung der S-Bahn der Reichsbahndirektion Berlin im Vorfeld die Fahrplananordnung (Fplo) 933 mit dem Titel "Fahrplan- und Transportraumregelungen für die Veranstaltungen zum 30. Jahrestag der DDR". Für die Berliner S-Bahn begannen die zusätzlichen Fahrten schon am 4. Oktober mit der Ankunft des ersten Sonderreisezuges in Berlin-Schöneweide. Einen Tag später erhöhte sich die Zahl der Sonderzüge sowie die der Anreisebahnhöfe. Am 6. und 7. Oktober schließlich fuhr die S-Bahn tagsüber ein sehr großes Sonderzugprogramm auf allen Ostberliner Strecken. Lag am Sonnabend (6.10.) der Schwerpunkt der Festveranstaltungen beim schon genannten abendlichen Fackelzug der Jugendorganisation FDJ auf der Straße Unter den Linden, so waren es einen Tag später die Festparade in der Karl-Marx-Allee sowie ein ganztägiges Volksfest rund um den Alexanderplatz.
In diesen Sonderzugfahrplänen verkehrten sogenannte "Ju-Züge", die mit einem blauen Schild mit weißer Schrift anstelle des Umlaufschildes gekennzeichnet waren; das Zuggruppenschild blieb bestehen. Die Beschilderung erfolgte mit "Sonderzug", in Ausnahmefällen reichte das Leerschild aus. Die Ju-Züge ("Jugend-Züge") verkehrten bis zum Einsteigebahnhof leer, dann weiter bis zum Aussteigebahnhof ohne Zwischenhalte. Hier gab es Ausnahmen: Einzelne Züge waren zur besseren Nutzung für den allgemeinen Reiseverkehr bis zu den Bahnhöfen Schöneweide, Ostkreuz, Greifswalder Straße bzw. Grünau freigegeben und mußten dann an eben diesen Stationen von Fahrgästen geräumt werden. Wiederum andere einzelne Ju-Züge nahmen an Unterwegsbahnhöfen weitere Teilnehmergruppen auf, hier schrieb die Fplo 933 einen zusätzlichen Halt vor. Erst vom Aussteigebahnhof an verkehrte der Ju-Zug wieder als normaler S-Bahn-Zug für den regulären Reiseverkehr.
Nicht nur die Züge absolvierten ein umfangreiches Sonderzugprogramm; sie fuhren Sonnabend und Sonntag teilweise nach dem von Montag bis Freitag gültigen Normalfahrplan. Auch ein Teil der Aufsichten und Stellwerke wurde personalmäßig meist um eine zweite Person aufgestockt. Die Entstörungsbereitschaften der Bahnmeistereien und des Signal- und Fernmeldewesens wurden in der Nähe der neuralgischen Punkte entsprechend bereitgestellt .
Zudem schrieb die Fplo 933 im Punkt 6 vor:
In den S-Bw, Twh und in der Flm sind genügend Kräfte vorzuhalten, die bei Bekanntwerden von Störungen oder Unfällen mit notwendigen Werkzuegen und Geräten sofort zur Unfallstelle zu entsenden sind.
Was jedoch keiner gedacht hatte, weder Fahrplanersteller, S-Bahn-Verantwortliche noch Mitarbeiter, trat ein, ein Auffahrunfall zwischen den S-Bahnhöfen Jannowitzbrücke und Alexanderplatz.
Eine Unaufmerksamkeit bringt den Anreiseverkehr ins Stocken
Wie schon eingangs geschrieben, fand am 6. Oktober 1979 ein Fackelumzug der FDJ in der Straße Unter den Linden statt, hier erwartete man bis zu 250.000 Teilnehmer. Im Vorfeld dieser Veranstaltung ereignete sich gegen 13.52 Uhr auf den Gleisen der Stadtbahn zwischen den S-Bahnhöfen Jannowitzbrücke und Alexanderplatz ein Auffahrunfall mit zwei S-Bahn-Zügen. Das Unfallmeldeblatt, das in der Oberdispatcherleitung der S-Bahn zeitnah geschrieben wurde, stellt den Sachverhalt so dar:
Ursache:
Nach Ausfahrt des Ps 38 734 - F11 aus dem Hp Jannowitzbrücke unterließ der Tf die Streckenbeobachtung, so daß der vor dem Einfahrsignal 18 des Bf Ale befindliche Ps 39 237 - L11 [*] Bu - Ale nicht wahrgenommen wurde.
Ermittlungsverfahren gemäß StGB §196 (1) ** eingeleitet.
[*] Umlauf Ludwig 15 (L15) statt L11
[**] DDR-StGB §196 (1): Herbeiführung eines schweren Verkehrsunfalls
Auch unter dem Punkt Schuldfrage hatte man schon einen Verantwortlichen benannt: den 23jährigen Triebfahrzeugführer S., Heimatdienststelle S-Bw Grünau. Schon hier listete das Meldeblatt persönliche Angaben zum Lokführer auf: sechs Dienstjahre, drei Dienstpostenjahre und eine halbe Stunde im Dienst.
Was war genau passiert? Aufgrund der vorliegenden Protokolle, dienstlichen Äußerungen und sonstigen Niederschriften läßt sich der Unfallhergang auch heute noch minutiös darstellen. Eine Chronik des Ereignisses:
13.45 Uhr - Bahnhof Ostkreuz - Wetter: klar/sonnig
Triebfahrzeugführer S. übernimmt am Bahnsteig E den Zug F11 (Zuggruppe Fee) in Richtung Friedrichstraße. Der abzulösende Kollege übergibt ihm den Zug ohne besondere Vorkommnisse. Unmittelbar danach erhält der Zug den Abfahrauftrag.
In der am 10. Oktober stattgefundenen Vernehmung gibt S. zu Protokoll, daß sein eigentlicher Dienstbeginn in Schöneweide in der Meldestelle auf Bahnsteig B gewesen wäre. Nach Einsicht der dort ausliegenden betrieblichen Unterlagen hätte er als Fahrgast im Dienstabteil einer S-Bahn zum Bahnhof Ostkreuz fahren müssen, um dann um 13.45 Uhr den für ihn bestimmten Zug F11 übernehmen zu können. S. gibt in der Vernehmung zu, schon von zu Hause mit der Maßgabe weggegangen zu sein, gleich nach Ostkreuz ohne den Umweg über die Schöneweider Meldestelle zu fahren. So wie S. verhielten sich damals viele Triebfahrzeugführer. Auch wenn der korrekte Dienstweg auf den späteren Unfallhergang keinen Einfluß hatte, in der Urteilsbegründung wurde dieses Fehlverhalten dennoch entsprechend negativ gewürdigt.
13.47 Uhr - Bahnhof Warschauer Straße
S. zündet sich eine Zigarette an.
13.51 Uhr - Bahnhof Jannowitzbrücke
Der Zug F11 erhält den Abfahrauftrag. Das Selbstblocksignal 14 am westlichen Bahnsteigende zeigt ihm den Fahrtbegriff Sv2 (Fahrt - Halt erwarten). S. nimmt im Unterbewußtsein von diesem Signalbegriff jedoch nur das grüne Licht wahr und beschleunigt seinen Zug mit voller Anfahrbeschleunigung (0,5 m/s²). Während dieser Anfahrt sinniert er über den Vorabend und schaut sich das rege Treiben im Bereich der Kreuzung von Holzmarkt- und Brückenstraße an. Dabei fällt ihm die Zigarette aus seiner rechten Hand. Reflexartig springt er auf, damit diese nicht auf seine Hose fällt. Den Fahrschalter hält er dabei weiterhin gedrückt. Um nachzusehen, wohin die Zigarette gefallen ist, ändert S. seine Position. Den Fahrschalter hält er immer noch gedrückt, auch wenn er nun dazu die andere Hand nehmen muß. Während er die verlorene Zigarette unter seinem Führerstandsitz sucht, passiert der Zug das Halt zeigende Selbstblocksignal 16 (Signalbegriff Sv103).
Ausfahrsitiuation Mitte der 1980er Jahre westlich des S-Bahnhofes Jannowitzbrücke (Symbolbild).
13.52 Uhr - Streckengleis 4 (Ostbahnhof—Alexanderplatz)
S. hat mittlerweile den Fahrschalter losgelassen, seine rechte Hand stützt sich nun am Pult ab. Während sein Blick immer noch der verlorengegangenen Zigarette gilt, fährt der Zug F11 nach 145 Metern auf den gerade wieder anfahrenden L15 (Zuggruppe Ludwig) in Höhe der Voltairéstraße mit einer Geschwindigkeit von etwa 45 km/h ungebremst auf. S. bemerkt den Aufprall aufgrund seiner immer noch bestehenden Unaufmerksamkeit erst durch das Splittern der Frontscheibe. Er selbst stößt sich dabei mit seiner Schulter am Führerpult. Schnell greift er nach dem Führerbremsventil, legt es in Schnellbremsstellung und betätigt den Kurzschließer zum Abschalten der Stromschienenspannung. Trotzdem kommen beide Züge erst nach 46 Metern zum Stehen. Für den Zug L15 berechnete man zum Zeitpunkt des Aufpralles im nachhinein eine gefahrene Geschwindigkeit von etwa 10-15 km/h.
Der erste Wagen des auffahrenden Zuges (277 327) wird bei dem Zusammenstoß aus der Kugelpfanne des ersten Drehgestelles gehoben. Beim Zug L15 werden die beiden letzten Wagen (275 497+498) jeweils aus der in Fahrtrichtung ersten Kugelpfanne gehoben, der Beiwagen gerät dabei in das Profil des Streckengleises 3 (Alexanderplatz—Ostbahnhof). Die in der Unfallmeldung genannte Profileinschränkung durch den 275 808 beruht auf einem Übermittlungsfehler. In beiden Zügen zählt die Polizei 14 Leichtverletzte, darunter zwei Kinder. Alle 14 Verletzten können nach ambulanter Behandlung wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden. S. selbst bleibt unverletzt.
Der gerade in Richtung Ostbahnhof aus dem Bahnhof Alexanderplatz ausfahrende Zug G14 (Zuggruppe Gustav) kann durch das Signal Sh1 (Kreissignal - "Sofort halten! - Gefahr") gestoppt werden.
Grafische Darstellung der Betriebssituation vor und nach dem Auffahrunfall.
13.56 Uhr
Die Unfallmeldung geht vom Bahnhof Alexanderplatz aus bei der Oberdispatcherleitung der S-Bahn ein. Sofort werden die beiden S-Bahn-Gleise 3 und 4 gesperrt. S. benachrichtigt vom Stadtbahnviadukt aus Polizei und Feuerwehr, die aufgrund des vor Ort stattfindenden Volksfestes schnell am Unfallort sind.
13.57 Uhr
Der Gerätezug des S-Bahn-Betriebswerkes Friedrichsfelde wird alarmiert. Er wird zehn Minuten später dort abfahren.
14.00 Uhr
Anforderung eines Schienenersatzverkehrs mit 42 Kraftomnibussen.
15.19 Uhr - zwischen Ostbahnhof und Alexanderplatz
Der Gerätezug des S-Bw Friedrichsfelde trifft am Unfallort ein. Die späte Ankunft erklärt sich durch notwendiges Umrangieren im Bahnhof Bln Ostbahnhof (Ankunft 14.23 Uhr, Abfahrt 15.15 Uhr), da das Streckengleis Ostbahnhof—Jannowitzbrücke durch nachfolgende S-Bahnen blockiert war. Der Gerätezug erreichte somit die Unfallstelle durch "Befahren des falschen Gleises" [2].
Um 14.47 Uhr forderte die Oberdispatcherleitung Berlin den in Köpenick stationierten Eisenbahndrehkran EDK 300 an, er erreicht die Unfallstelle um 15.40 Uhr. Zusätzlich wird um 15.15 Uhr noch der Hilfsgerätezug des Bahnbetriebswerkes Schöneweide alarmiert. Er trifft mit zwei Lokomotiven der BR 106 um 16.20 Uhr am Ereignisort ein. Alle diese Zugfahrten verkehren als dringliche Hilfszüge.
Der dritte und der vierte Viertelzug des anfahrenden Zuges Ludwig 15 wurden aufeinandergeschoben. Links der 275 807, rechts 275 498.
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-U1006-0051, Katja Rehfeld.
Die Folgen für den Zugverkehr
Aufgrund der nach dem Unfall eingeleiteten Streckensperrung brach vorerst der komplette Verkehr auf der östlichen Stadtbahn zusammen. Der eingerichtete Schienenersatzverkehr (SEV) verkehrte zwischen Ostbahnhof und Alexanderplatz. Gegen 16.00 Uhr erfolgte eine Verstärkung dieses SEV um weitere acht Busse.
Zusätzlich verkehrten einige Wendezugfahrten auf dem Fernbahngleis 1 zwischen Ostbahnhof und Alexanderplatz. Nach einigen Umschaltarbeiten an der Stromschiene, bei der die Unfallstelle spannungsseitig abgeschaltet wurde, konnte ab etwa 14.30 Uhr zwischen Alexanderplatz und Friedrichstraße ein S-Bahn-Pendelbetrieb auf beiden Streckengleisen aufgenommen werden. Ein Zug der Zuggruppe E mußte in dem westlichen und selten genutzten Kehrgleis am Stellwerk Friw des Bahnhofs Friedrichstraße abgestellt werden [1].
Die Zugläufe der S-Bahn wurden nun wie folgt gebrochen:
Wegen der beginnenden Aufräumarbeiten wurden zusätzlich die beiden Fernbahngleise 2 (Osb—Ale) ab 15.34 Uhr sowie 1 (Ale—Osb) ab 16.48 Uhr gesperrt. Der schon erwähnte Wendezugbetrieb der Fernbahn mußte vorübergehend eingestellt werden. Zudem erhielt der D 336 Friedrichstraße—Hamburg eine Verspätung von 98 Minuten, der D 1317 Malmö—Zoologischer Garten verspätete sich um 22 Minuten. Des weiteren vermerkt der Unfallbericht eine "negative Beeinflussung der Wagenreinigungs- und -unterhaltungstechnologie, da vier Leerreisezüge das Bahnbetriebswagenwerk Berlin-Rummelsburg verspätet erreichten."
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