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Erinnerung Mitarbeiter S-Bahn |
Montagmorgen, 2. Juli 1990 – 3.41 Uhr:
Der erste Zug des neuen Betriebstages erreicht vom Berliner Hauptbahnhof (heute wieder Ostbahnhof) kommend den Bahnhof Friedrichstraße – und kehrt wieder um. Acht Minuten später erreicht der erste planmäßig durchfahrende Zug die Station. Im Führerstand, im Dienstabteil sowie im Rest des ersten Wagens drängen sich schon eine Menge Leute. Triebfahrzeugführer Bernd Wulff hat sich die in wenigen Sekunden erste offizielle sektorenübergreifende Fahrt anders, eher ruhiger vorgestellt. Über einen der anwesenden Reporter verliert er später folgende Worte:
Und der Reporter quatschte dauernd dazwischen und fragte, ob ich mich jetzt euphorisch fühle. Aber ich war stinksauer, weil man mir meine gediegene Einfahrt in den Westteil verhagelt hatte. [1]
Trotzdem für Wulff kein wirklicher Grund, böse zu sein. Ihn begleitet an diesem historischen Morgen sein Lokführerkollege Dieter Rudel. Rudel, seit vielen Jahren ebenfalls Triebfahrzeugführer, fuhr am Tag des Mauerbaues am 13. August 1961 – ohne es zu wissen – die letzte S-Bahn von Bln Friedrichstraße in Richtung Westen. Sein eigentliches Ziel Falkensee erreichte er nicht mehr, für ihn war in Spandau West Endstation.
Zur Abfahrt bereit steht der erste planmäßig wieder durchfahrende Vollzug der BR 277 (277 261/262 + 112/111 + 249/250 + 036/035) im Bahnhof Friedrichstraße.
Im Führerstand die beiden Triebfahrzeugführer Wulff (links) und Rudel.
Knapp zehn Minuten später hat der Zug den Bahnhof Zoologischer Garten erreicht. Viele der ersten Fahrgäste erreichten mit schnellen Schritt den auf der gegenüberliegenden Bahnsteigseite bereitstehenden ersten planmäßig durchfahrenden Zug Richtung Osten.
Um 3.50 Uhr setzt sich der Zug in Richtung Lehrter Stadtbahnhof unter dem großen Blitzlichtgewitter der Fotografen wieder in Bewegung. Der Berliner Verkehrschronist Dieter Bohrer hat diesen historischen Moment auf Film festgehalten, er ist auf der DVD „Wieder grenzenlos“ auf seiner Webseite erhältlich.
Um 4.00 Uhr fährt im Bahnhof Zoologischer Garten der erste planmäßig durchfahrende Zug ab und erreicht Friedrichstraße gegen 4.10 Uhr. Zwei Stunden später werden hier im Beisein von Berliner Politprominenz sowie Verantwortlichen der Deutschen Reichsbahn sowie der Berliner Verkehrsbetriebe die offiziellen Eröffnungsakte für beide Fahrtrichtungen vollzogen.
Bevor sich dieser Aufsatz mit der Wiederaufnahme des planmäßigen S-Bahnverkehres sowie der Entwicklung der Verkehrsströme zwischen Friedrichstraße und Lehrter Stadtbahnhof befasst, möchten wir im Vorfeld auf die nach dem 13. August 1961 am Bahnhof Friedrichstraße geschaffene Verkehrssituation kurz eingehen und verweisen zudem auf zwei weitere Seiten, um ein entsprechendes Gesamtbild – in einem gewissen Maße – darstellen und die Thematik weiter vertiefen zu können. Zudem sei an dieser Stelle hingewiesen, daß es schon vor dem 2. Juli 1990 vereinzelt Sonderverkehre (leer bzw. mit Reisenden besetzt) gab, die sektorenübergreifend fuhren. Diese nutzten jedoch die einzig bis Ende Juni 1990 vorhandene Überführungsmöglichkeit über den Fernbahnsteig A des Bahnhofes Friedrichstraße.
Ausgangssituation
Kurz nach 1 Uhr am Morgen des 13. August 1961 riegelt die DDR die Grenze zu Westberlin ab. Zwölf S-Bahnstrecken werden in den nächsten Stunden unterbrochen, mehrere S- und U-Bahnhöfe nicht mehr für den Reisendenverkehr zugänglich sein.
Im Bahnhof Friedrichstraße wird die Unterbrechung des S-Bahnverkehres schon um kurz nach Mitternacht vollzogen. Bis zu jenem Zeitpunkt verkehren die auf der Stadtbahn verkehrenden S-Bahnzüge an den Bahnsteigen B und C. Züge Richtung Alexanderplatz und Ostbahnhof halten seit 25. Februar 1953 am Bahnsteig B, Züge Richtung Zoologischer Garten und Westkreuz am Bahnsteig C. Um jeweils beide Bahnsteiggleise nutzen zu können, befand sich jeweils vor dem Bahnsteigbeginn eine einfache Weichenverbindung.
Der Gleisplan von 1958 (oben) zeigt, dass es vor dem Mauerbau in Friedrichstraße vom Bahnsteig C keine Rückfahrmöglichkeit für Züge in Richtung Osten gab. Die erforderlichen Umbauten (unten) begannen bereits am 13. August 1961.
Schon kurz nach der Unterbrechung des S-Bahnverkehres passte die Reichsbahn in jener Nacht innerhalb weniger Stunden die Gleisanlage an und baute eine der benötigten Weichen ein. Diese Arbeiten waren nach einem Bericht der Eisenbahnerzeitung "Fahrt frei" bis 15 Uhr des Sonntags erledigt. Da sich die Herstellung des endgültigen Zustandes der Gleis- und Sicherungsanlagen noch einige Tage hinzog, nutzten die am Gleis 6 ankommenden Züge das neu auf dem Streckengleis Friedrichstraße—Lehrter Stadtbahnhof eingerichtete Kehrgleis. Wie lange dieser Verkehr bestand, darüber gibt es keine genauen Angaben. Gesichert ist jedoch, daß es am 23. August 1961 noch eine Auffahrt auf den Gleisabschluß gab.
![]() Bildstrecke der östlichen Bahnhofseinfahrt |
![]() 9. November 1989 - Die Nacht des Mauerfalls |
![]() Bildstrecke der westlichen Bahnhofseinfahrt |
Der nachfolgende Aufsatz beruht auf einer entsprechenden thematischen Ausstellung des S-Bahn-Museums aus dem Jahre 2009, die auch als Buch erhältlich ist (siehe unten). Er wurde für die Darstellung auf der Webseite angepaßt.
Von der Endstation zum Durchgangsbahnhof – Herausforderungen im Betrieb
Vor einem durchgehenden S-Bahnbetrieb, wie es zumindest auf der Stadtbahn rasch möglich schien, waren viele Fragen zu klären. Als man sich im Frühjahr 1990 an die konkreten Planungen machte, wußte niemand, wie lange es an der Grenze noch Kontrollen geben würde. Nur bei Fortfall der Grenzkontrollen und ohne entsprechende Haltezeiten wäre ein Betrieb mit durchfahrenden Zügen denkbar gewesen. Bei den anderen, nicht so stark frequentierten Strecken war eine Grenzkontrolle anfangs durchaus eingeplant. Bei der Verbindung Neukölln—Baumschulenweg wäre der Verkehr in Köllnische Heide zum Zwecke von Kontrollen gebrochen worden.
Darüber hinaus waren nicht nur Aufgaben baulicher und elektrotechnischer Art für einen Betrieb über die (frühere) Grenze hinweg zu lösen. Ein durchgehender Betrieb bedeutete, daß Triebfahrzeugführer aus unterschiedlichen Arbeitswelten, abweichenden Vorschriften und Gesetzen unterworfen, den jeweils anderen Betriebsbereich befahren sollten. Dasselbe galt für die Triebfahrzeuge, die auf unterschiedliche Rahmenbedingungen (z. B. verschiedene Funkfrequenzen, allgemeine Bedienung des Triebfahrzeugs) konfiguriert waren.
BVG-Zug der legendären Bauart Stadtbahn (Baujahre 1928-30) auf der Linie S3 im Bahnhof Baumschuelenweg (Dezember 1990)
Entsprechend waren Absprachen zu treffen, wie die Dienstvorschriften einheitlich auszulegen sind, wie auf Unregelmäßigkeiten im Betrieb zu reagieren ist, und wie die unterschiedlichen Funkausrüstungen zu handhaben sind. Am Ende engagierter Bemühungen und arbeitsreicher Wochen lag ein Konzept für die gemeinsame durchgehende Betriebsführung auf der Stadtbahn vor, dessen Hauptlast die DR zu tragen hatte. Sie stellte die meisten Fahrzeuge und Personale; grenzüberschreitend wurde ausschließlich DR-Personal eingesetzt. Daß die BVG-Führer nicht in das Ostnetz fuhren, hatte seinen Grund darin, daß diese Streckenkenntnisse nicht nur auf der planmäßigen Strecke nach Königs Wusterhausen benötigt hätten, sondern für den Fall operativer Ableitungen ihre Züge auch nach Erkner zu fahren hätten. Die dafür erforderlichen Streckenkenntnisse hätten durch entsprechende Dienstschichten auch gültig gehalten werden müssen.
Nach dem Fall der Mauer wurde der Bahnhof Friedrichstraße wieder zum zentrale Umsteigepunkt in der Stadt.
Weil die baulichen Veränderungen für die Grenzanlagen noch längere Zeit bestanden, waren die Wege bisweilen mühselig. (11. oder 12. November 1989)
Seit dem Mauerfall in den Nachtstunden des 9. November 1989 mußten Deutsche Reichsbahn, BVG und BVB über Tage und Wochen hinweg viele Tausende Fahrgäste zusätzlich transportieren. Die im Transitverkehr nach Westen führenden Linie, die Nordsüd-S-Bahn und die U-Bahnlinie U 6 fuhren wie immer – aber sehr viel voller.
Nur auf der Stadtbahn, wo am 13. August 1961 die durchgehenden Gleise unterbrochen und die Verkehre in zwei von einander getrennten Hallen abgewickelt wurden, ging es noch nicht in einem Zug durch. Zwar waren schon vor Weihnachten 1989 erste Sonderzüge und Betriebsfahrten über ein durchgehend elektrifiziertes Fernbahngleis durchgeführt worden. Für den regulären Betrieb kam diese Lösung aber nicht in Frage.
Eigentlich fehlten nur ein paar Weichen und Signale. Größer als die baulichen Hindernisse waren aber die politischen. Erst als sich im Frühjahr 1990 die Schritte zur raschen politischen Einheit Deutschlands, zur Einführung der DM als gemeinsamer Währung und der Abschaffung aller Kontrollen abzeichneten, bekamen die Techniker von DR und BVG grünes Licht, die Wiederherstellung des durchgängigen Zugbetriebes vorzubereiten.
Bis zum Sommer 1990 endeten die Westberliner S-Bahnen mitten in der Stadt, im Bahnhof Friedrichstraße, am früheren Fernbahnsteig Richtung Westen. (19. Juni 1990)
Bis zum 1. Juli 1990 hieß es in Friedrichstraße am Bahnsteig B noch "alles aussteigen", und man mußte sich zum Anschlußzug auf den Bahnsteig C begeben. Ab dem nächsten Tag fuhren die Züge hier weiter - und man konnte sitzenbleiben. (19. Juni 1990)
Bei den Baumaßnahmen war zu berücksichtigen:
In rund drei Monaten Bauzeit wurden die Maßnahmen soweit abgeschlossen, daß am Tag nach Abschaffung der Grenzkontrollen, am 2. Juli 1990, der durchgehende Verkehr wieder aufgenommen werden konnte. Technisch wurde an der Durchbindung der Stadtbahn bis zur letzten Minute gearbeitet. Der damalige Betriebsleiter der Ost-S-Bahn, Dr. Wolf-Ekkehart Matthaeus, erzählte:
Als nach Abschluß der Bauarbeiten eine Stunde vor Betriebsaufnahme der erste Probezug abfahren sollte, ließ sich das Ausfahrsignal nicht auf Fahrt stellen. Es waren bestimmte Kabeladern nicht verbunden, die unentdeckt waren. Buchstäblich fünf Minuten vor Abfahrt des ersten Zuges hatten die Techniker das Problem gelöst. Es war unser größter Stolz, den ersten Zug von Ost nach West nach so langer Zeit auf ‚Grün’ und nicht auf Ersatzsignal losschicken zu können.
Bei der S-Bahn gab zunehmend die Deutsche Reichsbahn den Ton an:
DR-Orchester auf dem S-Bahnhof Friedrichstraße am 2. Juli 1990.
Morgens kurz vor 6 Uhr trafen sich die Spitzen von BVG und Reichsbahn zu einem offiziellen Festakt. BVG-Direktor Lorenzen schickte um 6.11 Uhr einen mit Girlanden geschmückten Zug nach Königs Wusterhausen. Der amtierende Reichsbahn-Präsident Möller hob zehn Minuten später für einen Zug nach Wannsee die grüne Kelle.
Der S-Bahnverkehr wurde nun zunächst wie bis Anfang der 50er Jahre wieder nur durch die Stadtbahnhalle abgewickelt. Um auch weiterhin Züge in Friedrichstraße enden zu lassen, wurde dann bis zum Herbst 1990 ein drittes Gleis (in der Fernbahnhalle) wieder für den S-Bahnverkehr saniert.
Folgende Verbindungen wurden ab dem 2. Juli 1990 eingerichtet:
Während der gesamten Betriebszeit bis Wannsee verlängert wurde die Zuggruppe H (bisher Königs Wusterhausen—Friedrichstraße). Hier kam es zu einem Gemeinschaftsbetrieb BVG—DR. Deshalb wurde diese Zuggruppe intern als H/S 3 bezeichnet. Von den 10 Umläufen der BR 275 (später BR 475/875) stellte die BVG 7 und die Reichsbahn 3. Alle 10 Wagenzüge wurden zwischen Lehrter Bahnhof und Wannsee von Triebfahrzeugführern der BVG gesteuert, zwischen Lehrter Bahnhof und Königs Wusterhausen fuhren Reichsbahner die Züge. Im Lehrter Bahnhof fand ein Personalwechsel statt, wie es ihn bis zum 1. April 1990 gegeben hat.
Die S3 Wannsee—Königs Wusterhausen wurde von BVG und DR gemeinsam betrieben. Die BVG-Personale mußten noch lange Zeit die Züge im Lehrter Stadtbahnhof verlassen, weil von dort ostwärts ein Reichsbahn-Triebfahrzeugführer den Zug übernahm. Von 1984 bis Juli 1990 ist das DR-Personal nur zwischen Lehrter Stadtbahnhof und Friedrichstraße gefahren. (Juli 1990)
Die Linienführungen wurden unter rein pragmatischen, fahrplantechnischen Gesichtspunkten erstellt: Was paßte hinsichtlich Fahr- und Kehrzeiten und den zur Verfügung stehenden Gleisanlagen am besten zusammen? Dabei waren die begrenzten technischen und betrieblichen Möglichkeiten der BVG (große Signalabstände, wenig Fahrzeuge) zu beachten.
Entgegen den Gepflogenheiten der BVG wurden die Reichsbahnzüge nicht mit einem Linienschild gekennzeichnet (z.B. S 3), sondern führten weiterhin das Zuggruppenschild (z.B. C oder F). Eine Ausnahme bildeten die Züge der von BVG und DR gemeinsam betriebenen Zuggruppe H/S 3. Damit die Aufsichten die BVG-Züge wegen der unterschiedlichen Funkabfertigung rechtzeitig erkennen konnten, trugen diese das Linienschild S 3, während die Reichsbahnzüge durch das Zuggruppenschild H gekennzeichnet wurden.
Ein völlig neues Bild in Westberlin boten die modernisierten DR-Züge der Baureihe 277 (später BR 477/877) hier in Charlottenburg. (3. Oktober 1990)
Heute verkehren S-Bahnzüge im Schnitt alle 2 bis 3 Minuten auf den Stadtbahngleisen. An die Jahrzehnte der getrennten Betriebsführung erinnert nichts mehr.
Erinnerung Mitarbeiter S-Bahn |
Autoren:
Udo Dittfurth, Mathias Hiller
Einleitung und Bildstrecken: Mike Straschewski
Quelle:
[1] Auf dem gleichen Gleis; Tagesspiegel vom 16. September 2010
Zum Thema ist auch ein Buch mit dem Titel "Mauerfall 1989. Berlin und Brandenburg grenzenlos mit Bahn und Bus" beim Verlag GVE erschienen. Das Buch gibt zudem einen Überblick über die Verkehrsleistungen von U-Bahn, Straßenbahn und Bus.
ISBN-Nummer 978-3-89218-089-0
252 Farb- und 39 s/w-Abbildungen; Format 235 x 215 mm; 96 Seiten; broschiert; 14,80€
Danksagung:
Textveröffentlichung und Bildfreigaben mit freundlicher Genehmigung des
letzte Änderung:
3. Juli 2015
Veröffentlichung:
2. Juli 2015