Die Baureihe 165 - die Bauart Stadtbahn

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Stürmische Zeiten - Von der Wende bis zum Ende

Der Fall der Berliner Mauer stellte die beiden S-Bahnbetreiber Deutsche Reichsbahn (für Ostberlin) und die BVG (für Westberlin) vor völlig neue Herausforderungen. Über Nacht taten sich neue Verkehrsströme auf, so daß die S-Bahnzüge - gerade im Westteil der Stadt - von Reisenden geradezu überquollen. In einer Fahrplananordnung (Fplo) wies die BVG an, daß auf der S3 zwischen Wannsee und Friedrichstraße von 6:00 Uhr bis Betriebsschluß ein 10-Minutentakt durchgeführt wird. Die S-Bahn-West stieß jedoch schnell an ihre Kapazitätsgrenze, personell und wagentechnisch. So wurde noch am gleichen Tag mit der DR vereinbart, daß diese der BVG mehrere Wagenzüge zur Verfügung stellt, um von denen bis dato üblichen Halbzügen auf Dreiviertel- bzw. Vollzüge zu verstärken. Diese DR-Wagen mussten jedoch aufgrund ihres nicht kompatiblen Funksystems sowie fehlender Zugziele im Schilderkasten in die Mitte eingestellt werden.


ab 10. November 1989        
Bw Friedrichsfelde 275 327/8 275 453/4 275 453/4 275 663/4
Bw Grünau 275 461/2 275 611/2 275 687/8 275 951/2
ab 23. November 1989        
Bw Friedrichsfelde 275 479/0 275 503/4 275 621/2 275 809/0
Bw Grünau 275 703/4 275 955/6 275 963/4 275 955/6
ab 7./ 8. Dezember 1989        
Bw Grünau 275 629/0 275 643/4 275 647/8 275 667/8
Bw Grünau 275 955/6 275 703/4 275 629/0 275 647/8
Bw Grünau 275 963/4 275 965/6    
Bw Friedrichsfelde 275 511/2 275 595/6    

Tabelle 1: Übersicht über die der BVG von der DR bereitgestellten Viertelzüge, entnommen aus: BVB Heft 1/1990

Am 15. Januar 1990 waren von den oben genannten Fahrzeugen nur noch die folgenden Viertelzüge bei der BVG im Einsatz:
275 623/624, 629/630, 637/638, 647/648, 703/704, 955/956, 963/964 und 965/966 [2].

Mit der Aufnahme des durchgehenden S-Bahnverkehres am Bahnhof Friedrichstraße am 2. Juli 1990 wurden erstmals planmäßig auch Züge der BVG auf den Strecken in Ostberlin eingesetzt. Die Zusammenarbeit beider S-Bahnbetreiber verbesserte sich stetig: Ab September 1991 wurden die BVG-Fahrzeuge im Reichsbahnausbesserungswerk Schöneweide hauptuntersucht. Ein Teil der Viertelzüge erhielt dort noch einmal eine Neulackierung. Die bis dahin im alten S-Bahnbetriebswerk Papestraße stattgefundenen Hauptuntersuchungen wurden eingestellt, diese Dienststelle zum 1. April 1992 aufgelöst.

Bild: Ausfahrt aus Wannsee

Die Züge der S-Bahnlinie 3 wurden mittels der DR-Viertelzüge auf Vollzüge verstärkt.
Im Bild ein solcher Zug bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof Wannsee in Richtung Grunewald (11. November 1989).

1992 - eine weitere und letzte Umzeichnung aller Wagen

Um eine weitere Anpassung zwischen beiden deutschen Eisenbahnen herbeiführen zu können, wurden die Fahrzeuge der Deutschen Reichsbahn dem Baureihenschema der Deutschen Bundesbahn angepasst. Alle elektrischen Triebwagen bekamen als erste Ziffer der Baureihenbezeichnung eine 4, die zweite Ziffer stellte die Antriebsart dar: 7 für Gleichstromfahrzeuge. Die dritte Ziffer, die 5, wurde von der vorhandenen Baureihe 275 übernommen. Die Bei- und Steuerwagen erhielten als erste Ziffer eine 8, die weiteren Zahlen sind gleichbedeutend dem der Bezeichnung der Triebwagen. Um eine Unterscheidung von Bei- und Steuerwagen zu ermöglichen, bekamen die Steuerwagen als erste Ziffer der Wagennummer eine 6 und wurden neu durchnummeriert. Somit erhielten alle Steuerwagenviertelzüge eine komplett neue Fahrzeugnummer. Eine Unterscheidung zwischen Stadtbahner und Wannseebahner wurde ab sofort nicht mehr vorgenommen.
Hier noch zwei Umzeichnungsbeispiele:


1994 - Übergabe der S-Bahn von der BVG an die DB AG

Auf Beschluß des Bundestages vom 27. Dezember 1993 wurde zum 1. Januar 1994 das Gesetz über die Gründung einer Deutschen Bahn Aktiengesellschaft verabschiedet. Dem Rechtsnachfolger von Reichs- und Bundesbahn wurden damit auch die von der BVG betriebenen S-Bahnanlagen übergeben. Somit waren alle S-Bahnfahrzeuge der Deutschen Bahn AG zugehörig. Ein Jahr später, am 1. Januar 1995, wurde der S-Bahnbetrieb in Berlin in eine eigenständige GmbH - jedoch als hundertprozentige Tochter der DB AG - ausgegliedert. Die daraus enstandene S-Bahn Berlin GmbH war die letzte Eigentümerin der Züge der Baureihe 475/875 (und natürlich aller anderen Baureihen).

Abstellung, Verschrottung...

Bereits 1991 begann die Deutsche Reichsbahn mit der Abstellung von Fahrzeugen der Baureihe 275. Mit Stand September 1991 waren folgende Züge abgestellt: [3]

Bis Ende 1992 wurden weitere Fahrzeuge abgestellt: [4]

Neben einzelnen Verkäufen von Fahrzeugen wurden die ersten Wagen bereits 1993 verschrottet. Dazu wurden diese Schrottzüge nach Brandenburg/Havel und Kirchmöser in der Nähe von Brandenburg überführt. Es kamen unter die Schneidbrenner:[5]

275 327, 328, 375, 376, 403, 404, 427, 428, 453, 454, 467, 468, 469, 470, 484, 508, 530, 545, 546, 611, 612, 619, 620, 629, 630, 637, 638, 639, 640, 649, 650, 687, 688, 706, 707, 708, 721, 722, 761, 762, 831, 832, 947, 948, 951, 952, 955, 956, 961, 962, 963, 964.

Bild: 475 123 in Espenhain

Endstation Schrottplatz:
für 475 123-6 (ex 275 809, ex ET 165 548, ex 3655, ex 2729 - ET: 14.12.1929, EB: 5.12.1930 bei Busch in Bautzen) endet nach über 67 Einsatzjahren das Dasein. Der Viertelzug wurde am 13. August 1997 ausgemustert und ging mit einer Überführungsfahrt am 22. August nach Espenhain.

Bis zum Sommer 1997 wurden weitere Viertelzüge abgestellt. Dies lag vor allem an der stetigen Auslieferung von neuen Fahrzeugen der BR 481. Im Juni 1997 wurde die Baureihe 475/875 aus dem Nordsüd-S-Bahntunnel verbannt. Gemäß einer Weisung des Eisenbahnbundesamtes (EBA) durften dort nur noch Fahrzeuge eingesetzt werden, die einen Feuerlöscher im Fahrgastraum hatten. Da das Einsatzende sowieso unmittelbar bevorstand - Anfang 1997 gab es noch 60 Viertelzüge - verzichtete die S-Bahn Berlin GmbH als Betreiber aus Kostengründen auf einen dortigen Einsatz.

Eine neue Weisung des EBA beschied dem Betreiber, daß ab dem 1. Januar 1998 im gesamten S-Bahnnetz nur noch Züge eingesetzt werden durften, die mit einem Türdauerverschluß und Feuerlöschern im Fahrgastraum ausgerüstet seien. In Anbetracht der dadurch entstehenden Kosten entschied sich daraufhin die S-Bahn Berlin GmbH, den Einsatz der Fahrzeuge mit einer Sternfahrt am 21. Dezember 1997 zu beenden. Wenige Tage zuvor kamen die Züge jedoch nochmals zu Ringbahnehren: Mit der Wiederöffnung des Streckenabschnittes Treptower Park - Neukölln fuhren die letzten Viertelzüge der BR 475 ihre letzten Einsätze.

... und ein großer Abschied

Sonntag, 21. Dezember 1997:
Eine Berliner Legende - der Stadtbahner - wird in einer Sternfahrt verabschiedet. Passend zum traurigen Anlaß ist auch das Wetter eingetrübt, zeitweise regnet es. Tausende S-Bahnfans, Berliner und Brandenburger lassen es sich jedoch nicht nehmen, an diesem denkwürdigem Tag dabei zu sein. Gemäß der Fahrplananordnung 959 verkehrten von ca. 7:00 Uhr morgens bis in frühen Nachmittag hinein noch einmal sieben Sonderzüge im planmäßigen Fahrgastverkehr. Ein achter Sonderzug stand am Bahnsteig A des Bahnhofes Ostkreuz als "475er-Shop" für Verkaufszwecke zur Verfügung. Der Höhepunkt war zweifellos die Sternfahrt aller sieben Sonderzüge zum Bahnhof Ostkreuz, an dem sie sich von 12:53 Uhr an bis 13:02 Uhr trafen. Nach dieser letzten gemeinsamen Abfahrt steuerten die Züge ihre Endbahnhöfe an und fuhren im Laufe der nächsten Stunden jeweils als Leerfahrt in die Hauptwerkstatt Schöneweide zu ihrer Ausmusterung.


Sonderzug Umlauf Bahnsteig Ankunft Abfahrt Endbahnhof Fahrzeuge
1 S3/50 E 12:57 Uhr 13:02 Uhr Charlottenburg 475 605 + 033 + 005
2 S86/1 A 10:00 Uhr 14:02 Uhr Greifswalder Straße 475 075 + 084
3 S3/6 E 12:56 Uhr 13:02 Uhr Erkner 475 051 + 609 + 611 + 049
4 S4/12 F 12:55 Uhr 13:02 Uhr Westend 475 044 + 614 + 094 + 031
5 S5/9 D 12:55 Uhr 13:02 Uhr Lichtenberg 475 043 + 080 + 612
6 S6/50 A 12:53 Uhr 13:02 Uhr Warschauer Straße 475 076 + 079
7 S7/50 D 12:57 Uhr 13:02 Uhr Charlottenburg 475 055 + 040 + 608 + 086
8 S8/50 F 12:57 Uhr 13:02 Uhr Pankow 475 032 + 604 + 034

Lesen Sie hier einen ausführlichen Text zur Sternfahrt der BR 275 am 21. Dezember 1997.

Der Verein Historische S-Bahn e.V. betreut heute die Stadtbahner 275 625/6, 2303 + 5447, ET/ES 165 231, ET/EB 165 471, 275 959 + 954, 3662 + 6121 sowie 475 605 + 275 642 (875 605). Viele andere Fahrzeuge befinden sich in Museen und in privater Hand.

Wie sagt doch der Volksmund so schön? Helden leben lange, doch Legenden sterben nie!


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Autoren:
Michael Dittrich, Mike Straschewski

Quellen:
[1] Der Stadtbahner; Wolfgang Kiebert, transpress-Verlag, 2006, Seite 27
[2] Berliner Verkehrsblätter, Kurzmeldungen Heft 2/1990
[3] Berliner Verkehrsblätter, Kurzmeldungen Heft 11/1991
[4] Berliner Verkehrsblätter, Kurzmeldungen Heft 1/1993
[5] Berliner Verkehrsblätter, Kurzmeldungen Hefte 7, 8, 9, 11/1993 und Heft 1/1994

weitere Quellen und weiterführende Buchtipps:
Der Stadtbahner; Wolfgang Kiebert; transpress-Verlag; 2006
Der Wagenpark der Berliner S-Bahn; Carl W. Schmiedeke; Lokrundschau-Verlag Hamburg; 1997
Das blaue Wunder; Mario Walinowski; Verlag GVE; 2005
Züge der Berliner S-Bahn - Die eleganten Rundköpfe; Schmiedeke/Müller/Hiller; Verlag GVE; 2003
Der elektrische Betrieb auf der Berliner S-Bahn (Band 6); Manuel Jacob; Verlag Neddermeyer; 2004
Nordsüd-S-Bahn Berlin - 75 Jahre Eisenbahn im Untergrund; Dr. Michael Braun; Verlag GVE; 2008
Ansicht und Grundriß eines Triebwagen-Zuges; aus: Elektrische Bahnen; 1926
Die neuen elektrischen Berliner Stadtbahnwagen unter besonderer Berücksichtigung ihrer Massenherstellung; G.Wagner; Glasers Annalen; 1929
Aufarbeitung der S-Bahn-Fahrzeuge Berlin, Baureihe 275; BVG-Schreiben vom 3.1.1986
Die Wiederaufarbeitung der beschädigten Berliner S-Bahn-Wagen nach 1945; Hans-Joachim Hütter; Verkehrsgeschichtliche Blätter; Heft 5/2003
Ausbesserung der S-Bahnwagen, Schadgruppe 5; Schreiben des Ministeriums für Verkehrswesen der DDR vom 2.3.1962
Der Verkehr nach der Maueröffnung; Uwe Poppel, Jürgen Mexer-Kronthaler; Berliner Verkehrsblätter; Hefte 1+2/1990
Abschied von der Baureihe 475/875; Carl W.Schmiedecke; Berliner Verkehrsblätter; Heft 1/1998
1942: Die S-Bahn in Grau; Berliner Verkehrsblätter; Heft 12/1985
Der U-Bahn-Typ EIII; Bernhard Solyga; Berliner Verkehrsblätter; Heft 1/1992
Wagenpark der Berliner S-Bahn; Carl W. Schmiedeke; Eigenverlag; 3. Auflage, 1986
Kennzeichnung der Triebfahrzeuge der DR; Deutsche Reichsbahn; 1991
Kurzmeldung über Einsatz von Zügen mit Feuerlöschern; Berliner Verkehrsblätter; Heft 7/1997
BR 475: Sternfahrt nach Ostkreuz; Jürgen Meyer-Kronthaler; Berliner Verkehrsblätter; Heft 2/1998
Filmdokumentation "Abschied vom Stadtbahner"; ek-Verlag; 1998
Fahrplananordnung 959, S-Bahn Berlin GmbH, gültig am 21. Dezember 1997
Zeitzeugenaussagen und -berichte

Danksagung:
Die Autoren bedanken sich bei Hans-Joachim Hütter und Mathias Hiller für ihre Hilfe, Zuarbeitungen und Korrekturen.

letzte Änderung:
19. Dezember 2012

Veröffentlichung:
26. Oktober 2008

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